Onish 2-6 Nachrichten

673 68 5
                                    

Nachrichten

Talisha blickt zum abnehmenden Mond hinauf. Die Nacht geht bald zu Ende und sie hat noch keinen Jagderfolg zu verzeichnen. Sie wird das auf die nächste Nacht verschieben müssen. Im Moment ist es ihr wichtiger, voranzukommen. Noch ist sie stark genug, um einen weiteren Tag ohne zu fressen weiterzumachen. Ihr erstrangiges Ziel ist es, Onish und Kej so rasch wie möglich wiederzufinden.
Die Nsilí von Gerin wussten zu berichten, dass der junge Schattenwandler bereits vor über zwei Monden ihr Gebiet durchquerte und seither nicht nach Gerin zurückkehrte. Talisha vertraut dieser Auskunft. Die meisten Mondlichter sind zurückhaltend mit ihren Kontakten zu anderen Wesen der Nacht. Aber Irahj von Gerin stand Silàn schon fest zur Seite, bevor sie Königin wurde. Er und seine Nsilí sind seit damals zuverlässige Partner des Hauses Silita. Talisha ist sich deshalb sicher, dass sie es sofort erfährt, wenn Onish das Gebiet von Gerin betritt. Sie zieht aus diesem Grund westlich des Haon nach Norden, in der Hoffnung, dass entweder die Kaedin aus dem Sumpfland oder ihre eigenen Späher, die Tiere der Nacht, den Schattenwandler irgendwo finden werden. Es bleibt nur zu hoffen, dass sie nicht den ganzen Weg bis nach Lelai reisen muss, um ihn zu finden. Warum nur musste Dánan ihren Schüler zum Abschluss seiner Ausbildung ausgerechnet in die entfernteste Ecke der bewohnten Länder schicken? Möglicherweise beschäftigt sich Onish in diesem Augenblick damit, hinter den weißen Mauern von Lelai von Jakrim irgendwelche magischen Sprüche oder Gesetze der Schattenwandler zu lernen.
Talisha atmet tief durch und verscheucht die düsteren Gedanken. Inzwischen hat sie den Pass von Mirai hinter sich gelassen und befindet sich am Rand der Flussebene des Keli. Sie liebt diese Gegend nicht, es gibt für ihren Geschmack zu viele Menschen, zu wenig Wald und vor allem auch Jagdwild in Kelèn. Aber der schnellste Weg nach Norden führt durch die Ebene nach Sellei, quert das Grasland von Linar und danach die Steppen von Lellini. Die weiße Wölfin weiß, dass sie keine Zeit verlieren darf.
Der Himmel wird im Osten bereits hell, als Talisha eine Gruppe Xylin heranwirbeln sieht. Die leuchtenden Kugeln wirken aufgeregt. Die Wölfin unterbricht ihren gleichmäßigen Trab. Fragend sieht sie den Xylin entgegen.
‹Xylin grüßen Talisha. Xylin bringen Nachricht.›
‹Ich grüße die Xylin auch. Wie lautet eure Nachricht?›
Die durchscheinenden Kugeln schimmern in allen Farben des Regenbogens. Talisha liebt dieses Schauspiel. Aber heute will sie möglichst rasch die Botschaft der Lichtsammler erfahren. Die Xylin wirbeln durcheinander und lassen aufgeregt ihre Glockentöne erklingen.
‹Kae findet jungen Schattenwandler. Kaedin sagen, Onish ist in Sellei.›
‹Sellei? Das ist ausgezeichnet. Wo genau in Sellei?›
‹Kaedin sagen, Onish zieht nach Süden. Onish quert Selin vor drei Tagen. Onish reist mit rothaariger Magierin und zwei Pferden.›
Talisha atmet auf. Die Xylin drücken sich nicht immer so eindeutig aus. Aber diesmal ist ihre Information sehr wertvoll. Wenn Onish und Kej mit Pferden unterwegs sind, erklärt das, weshalb sie bereits wieder so weit im Süden sein können. Für Talisha ist das natürlich ein Glücksfall. Sie blinzelt den Xylin freundlich zu.
‹Ich danke den Xylin für die Nachricht. Ich werde versuchen, Onish so bald wie möglich zu treffen.›
‹Kaedin beobachten Onish. Xylin und Kaedin führen Schattenwandler zu Talisha.›
‹Ausgezeichnet. Vielen Dank, auch an die Kaedin!›
Mit einem aufgeregten Glockenläuten wirbeln die Xylin davon. Talisha schüttelt verwundert den Kopf. Sie hätte nie zu hoffen gewagt, so rasch von Onish zu hören. Obwohl sie selber Teil davon ist, überrascht sie die Effizienz des Kommunikationsnetzes der Königin der Nacht. Dann schiebt sie diese Gedanken beiseite. Für den Moment ist ihre Aufgabe, Onish möglichst rasch zu erreichen. Alles andere kann warten.

~ ~ ~

Liha blickt von seinem Schreibtisch auf, als der Gardist den Raum betritt und steif vor dem obersten Heerführer stehen bleibt. Dieser mustert den Besucher, ohne seine Neugier zu zeigen. Krauses blondes Haar, etwas zu lang für die Garde, wache blaue Augen und ein Mund, der gerne zu lachen scheint, zeichnen den jungen Mann aus. Überrascht stellt Liha fest, dass der Junge an seinem Mantel das unauffällige Abzeichen der Veteranen von Linar trägt. Er muss damals fast noch ein Kind gewesen sein, knapp alt genug, um ins Heer eingezogen zu werden. Nun gut, der Krieger hat immerhin schon einen Heereszug hinter sich und zudem mit Magie zu tun gehabt. Vermutlich bekam er sogar die berühmten Hrankaedí zu sehen. Das kann ihm für diese Mission nur zugute kommen.
«Wie ist dein Name, Gardist?»
«Raill-isha-Gelish, mein Kommandant.»
«Du hast eine Schwester, die in Eshte lebt, Raill?»
«Ja, Kommandant. Hamain zog kurz nach der Hochzeit mit ihrem Mann zusammen dorthin.»
Liha kann förmlich sehen, wie die Gedanken des Gardisten arbeiten. Er muss ein Lächeln unterdrücken. Es geht nicht an, dass der Heerführer des Königs zu kameradschaftlich mit einem einfachen Gardisten umgeht.
«Hast du deine Schwester gesehen, seit sie weggezogen ist?»
«Nein, Kommandant. Die Reise nach Eshte ist lang.»
Raill gibt nicht freiwillig preis, dass er erst vor kurzem einen langen Brief von Hamain erhielt. Er weiß immer noch nicht, weshalb er vor den obersten Heerführer des Reichs beordert wurde und zieht es vor, vorsichtig zu sein. Unbehaglich fühlt er Lihas nachdenklichen Blick auf sich ruhen. Der Mann scheint Gedanken lesen zu können.
«Aber? Was verrätst du mir nicht, Gardist.»
«Manchmal schreibt meine Schwester Briefe, Kommandant.»
Liha hebt die Augenbrauen. Lesen und Schreiben sind Fertigkeiten, die er normalerweise bei einem einfachen Krieger nicht erwarten würde. In diesem Raill scheint mehr zu stecken, als auf den ersten Blick zu erkennen ist. Nun ist seine Neugier wirklich geweckt. Er wird weitere Erkundigungen über diesen jungen Kelen einziehen müssen. Aber vielleicht ist das genau der Mann, den er sucht.
«Nun gut, Raill, möchtest du deine Schwester besuchen?»
«Ich stehe in Dienst, Kommandant.»
«Ich werde das anders formulieren. Bist du bereit, für mich eine Botschaft nach Eshte zu bringen?»
Diesmal ist es an Raill, überrascht zu reagieren.
«Eine Botschaft nach Eshte? Weshalb ich? Verzeihung, Kommandant.»
«Kein Problem. Wenn du diesen Auftrag annimmst, dann muss ich dir wohl Vertrauen schenken. Ich suche nach einem zuverlässigen Mann, der freiwillig bereit ist, in dieser Jahreszeit nach Eshte zu reisen. Dein vorgesetzter Offizier hat dich unter anderem empfohlen, weil du dort eine Schwester hast. Du kannst sie besuchen, sobald du den Auftrag erledigt hast.»
«Das werde ich bestimmt, Kommandant. Wann soll ich abreisen?»
«So bald wie möglich. Wann kannst du bereit sein?»
«Noch heute Abend. Ich muss einige warme Sachen für die Reise zusammensuchen. Außerdem möchte ich meinen Eltern Bescheid sagen, dass ich Hamain besuche, wenn ich darf, Kommandant. Vielleicht möchten sie mir etwas für sie und ihre Kinder mitgeben.»
«Das geht in Ordnung. Aber verrate nicht, dass du mit einem Auftrag unterwegs bist. Es ist mir lieber, wenn niemand von dieser Mission erfährt. Ich werde noch einen zweiten Mann dafür brauchen.»
«Ich wüsste jemanden, Kommandant. Er heisst Steim und arbeitet bei den Stadtwachen.»
Liha runzelt die Stirn. Der Name kommt ihm bekannt vor, aber er kann sich nicht erinnern, wo er ihn kürzlich gehört hat.
«Weshalb denkst du, dass er besonders geeignet ist?»
«Er ist ein alter Freund, auch von Hamain, ihrem Mann Fjenis und natürlich von A'shei. Er wird sich bestimmt freiwillig melden, Kommandant.»
«A'shei wie in A'shei-te-naorim, dem ‹ungekrönten König der Tannarí›? Du kennst ihn?»
Raill muss über das ungläubige Gesicht des Heerführers unwillkürlich lachen. Er hat sich aber schnell wieder unter Kontrolle.
«Verzeihung, Kommandant. A'shei ist ein alter Freund. Fjenis, der Mann meiner Schwester, lernte ihn kennen, als er sich auf der Flucht vor Femolai in Penira verstecken musste. Steim und ich halfen damals, ihn aus der Stadt zu schmuggeln. Das war allerdings lange bevor wir ins Heer eingezogen wurden.»
Liha schüttelt ungläubig den Kopf. A'shei erzählte ihm diese Geschichte vor langer Zeit an einem Lagerfeuer in Linar, nach dem Abschluss der Friedensverhandlungen. Allerdings wollte er keine Namen nennen. Die jungen Leute erwiesen damals dem Reich einen großen Dienst, auch wenn es Pentim zu dieser Zeit wohl anders gesehen hätte. Nun weiß er auch, woher er den Namen Steim kennt. A'shei erwähnte ihn bei seinem letzten Besuch. Der Heerführer kann sein Glück fast nicht fassen. Dies sind vielleicht die einzigen Männer in Penira, die sich völlig furchtlos nach Silita-Suan und damit ins Zentrum des Reiches der Nacht begeben werden.
«Nun, ich sehe, dass ich den richtigen Mann für meinen Auftrag gefunden habe. Ich betrachte A'shei ebenfalls als guten Freund, wenn auch deine Rechte ein Stück älter scheinen. Die Nachricht, die du tragen wirst, geht an ihn. Ich werde mit dem Kommandanten der Stadtwache sprechen, damit er deinen Freund Steim freistellt. Verabschiede dich von deinen Eltern, zieh dir etwas Unauffälliges an und lass dir vom Stallmeister vier gute Pferde bereitstellen. Wir treffen uns bei Sonnenuntergang im kleinen Trainingshof.»
Raill salutiert und verlässt ohne ein weiteres Wort den Raum. Liha blickt ihm nachdenklich hinterher. Seit er heute Morgen erfuhr, dass der Shalen dabei ist, die Stadt zu verlassen, ist er fieberhaft am Planen. Natürlich ist es seine erste Priorität, den Feuermagier und seine Anhänger unter Beobachtung zu halten. Trotzdem fühlt er sich verpflichtet, A'shei und Silàn über diese Entwicklung auf dem Laufenden zu halten. Aber er kann keinen gewöhnlichen königlichen Boten bei Wintereinbruch ins Silitatal schicken, und seine wenigen bewährten Fährtensucher benötigt er für die Verfolgung des Shalen. Liha kann wirklich von Glück sagen, dass einer seiner Hauptleute diesen Raill für die Aufgabe empfahl. Er scheint fähig zu sein und ist bereit, den langen Weg anzutreten. Trotzdem ist es ihm nicht recht, die beiden jungen Männer kurz vor dem Wintereinbruch auf diese beschwerliche Reise zu schicken. Zumindest erwartet er, dass sie bei diesem Auftrag keiner speziellen Bedrohung ausgesetzt sind, abgesehen vom Wetter. Er seufzt, als er seine Feder wieder aufnimmt. Sein Brief an A'shei ist fast fertig. Er fügt noch einige wenige Sätze an, bevor er das Dokument unterschreibt und versiegelt.
‹... Ich breche noch heute Abend auf, in der Hoffnung, den Magier einzuholen, unter Beobachtung zu halten und allenfalls zu stoppen. Unterdessen sende ich diesen Bericht mit zwei deiner alten Freunde. Ich hoffe, dass es Dir und deiner Familie gut geht und dass wir gemeinsam einen Weg finden, diese Krise zu meistern. Grüße Silàn von mir. Dein Freund, Liha›

~ ~ ~

Silàn legt ihre Feder beiseite und wartet, bis die Tinte trocknet, bevor sie das Buch schließt. Wie ihre Namensschwester und Stammmutter des Hauses Silita führt sie ein Tagebuch, in dem sie neben ihrer eigenen Geschichte auch die wichtigen Ereignisse in ihrem Reich festhält. Manchmal dient es ihr auch einfach dazu, ihre Gedanken zu ordnen. Im Nebenzimmer hört sie die Kinder herumtollen. Wieder einmal fragt sie sich, ob Hamain und Fjenis für sich und ihre Kinder nicht ein geordneteres, taggebundenes Leben vorziehen würden. Ihr eigener Nachwuchs ist nachtaktiver, als sie es sich je hätte träumen lassen. Wenn sie als Kind genauso war, muss es ihren Ziehvater sehr viel Nerven gekostet haben, sie wie ein normales Kind aufzuziehen. Sie steht auf, bevor sie sich in schmerzlicher Sehnsucht nach ihrer menschlichen Familie verlieren kann. Zu gerne würde sie wieder einmal ihre Schwester besuchen. Aber im Moment muss sie sich mit dieser magischen Krise beschäftigen.
Sie vermisst den Beistand und die Ratschläge ihres Freundes Ranoz. Der Drachenschatten ist vor Tagen losgezogen, um den ehemaligen Feuerberg Shatosh in Sellei zu besuchen. Er ist der einzige ihrer Verbündeten, der diese abgelegene Gegend kennt. Deshalb wollte er sich persönlich versichern, dass nicht dort die gesuchten Eier der Shahraní liegen. Sie erwartet eigentlich nächtlich seine Rückkehr.
Silàn öffnet die Tür zum Nebenzimmer, um ihre Tochter Tanàn zur Ruhe zu mahnen. Wie immer ist es der schwarzhaarige Wildfang, der die abendlichen Spiele der vier Kinder dominiert.
«Kommt, wir gehen vor dem Essen noch etwas hinunter in den Hof. Dort stört ihr wenigstens niemanden mit eurem Geschrei.»
Kurz darauf sitzt die Königin der Nacht auf einer steinernen Bank im oberen Burghof und sieht den vier warm angezogenen Kindern beim Spielen zu. Die Nächte werden jetzt schon sehr kalt, in den Bergen von Eshte. Bald wird der erste Schnee fallen. Und im nächsten Sommer sind dann Tanàn und Selai schon groß genug, um mit ihrem ersten Bogen zu üben, meint A'shei. Er muss es wissen, er ist der Jäger der Familie. Leise tritt Hamain heran und setzt sich neben ihre Freundin.
«Woran denkst du, Silàn?»
«Wie schnell die Kinder größer werden. A'shei hat Selai und Tanàn heute für den nächsten Sommer Pfeil und Bogen versprochen. Und sieh dir Hamiràn und He'sha an. Vor kurzem konnten sie noch kaum laufen.»
«Ja, die Zeit vergeht schnell.»
«Manchmal zu schnell. Ich frage mich, wann Tanàn beginnt, ihre Magie zu entwickeln. Ich fürchte mich jetzt schon davor, was sie damit noch alles anstellen kann.»
Hamain lacht herzlich. Es ist gut, eine praktisch veranlagte Freundin wie sie zu haben. Sie nimmt ein Problem nach dem anderen und lässt sich nie aus der Ruhe bringen. Silàn entspannt sich und lehnt sich auf der Bank zurück. In diesem Moment tanzen klingelnd einige Xylin in den Burghof. Sie sind ungewohnt aufgeregt. Silàn steht rasch auf und streckt eine Hand aus, nun wieder ganz die Königin der Nacht. Sanft lässt sich eine der Kugeln auf ihrer offenen Handfläche nieder. Die vier Kinder sind sofort zur Stelle und haschen nach den leuchtenden Kugeln. Es kostet Hamain Mühe, sie zurückzuhalten und die Xylin nicht noch mehr zu verstören. Endlich beruhigt sich die Xyl in Silàns Hand soweit, dass sie verständliche Worte formulieren kann.
‹Xylin grüßen Silàn, Königin der Nacht. Xylin bringen Nachricht.›
«Ich grüße die Xylin auch. Was ist passiert, von wem bringt ihr mir eine Nachricht?»
‹Xylin treffen Kaedin am Selin. Kaedin sind sehr aufgeregt.›
«Weshalb sind die Kaedin aufgeregt?»
‹Kaedin tragen Nachricht von Nsilí. Nsilí von Sellei sind sehr scheu, pflegen keinen Kontakt mit Kaedin und Xylin.›
«Das stimmt, die Nsilí von Sellei sind zurückhaltend. Manchmal besuchen sie nicht einmal den Winter-Vollmondtanz aller Mondlichter in Ramenar. Silmira zweifelte gelegentlich sogar an ihrer Loyalität. Was hat sie bewogen, mit den Kaedin Kontakt aufzunehmen?»
‹Kaedin sagen, Nsilí sagen, Ranoz sagt, Feuerberg in Sellei ist erwacht. Ranoz sucht Eier der Shahraní. Ranoz braucht Hilfe.›

Onish | Wattys 2015 GewinnerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt