Nach Sellei
Hajtash blickt über die Schulter zurück auf den Wagenzug, der sich schwerfällig durch die Furt quält. Während er zusieht rutscht einer der Wagen seitlich weg und seine Ladung gerät gefährlich ins Wanken. Es sind zum Glück die Zelte und nicht die Vorräte der Reisegruppe. Der Wagenlenker reißt mit vor Schreck geöffnetem Mund an den Zügeln der Pferde. Diese bleiben verängstigt schnaubend mitten im Fluss stehen, so dass auch der nachfolgende Wagen gezwungen ist, anzuhalten. Haitashs Schülerin Gerini lenkt laut fluchend ihr Pferd zurück zu dem steckengebliebenen Wagen. Sie schreit den Lenker an und befiehlt ihm, unverzüglich weiterzufahren. Der Mann rückt sich seine Mütze zurecht und spricht beruhigend auf die Pferde ein, ohne sich mit der wütenden Magierin anzulegen. Er hat die spitze Zunge der jungen Frau schon längst kennengelernt. Gemächlich wendet er sich um und kontrolliert seine Ladung, bevor er die Pferde mit einem Peitschenknallen wieder antreibt. Langsam rollen auch die anderen Wagen wieder an.
Hajtash schüttelt ungläubig den Kopf. Zum Glück sind die Zelte nicht in den Fluss gefallen. Es wäre eine kalte Nacht geworden, unter nassem Zelttuch. Ungefähr zum zwanzigsten Mal an diesem Tag fragt sich der Shalen, ob es eine sinnvolle Entscheidung war, die fünf schweren Wagen mitzunehmen. Er hätte gerne leichtere, wendigere Gefährte gehabt. Aber es war nicht einfach, selbst diese schwerfälligen Bauernwagen in kurzer Zeit aufzutreiben. Immerhin sind sie mit ihren großen, eisenbereiften Speichenrädern einigermaßen geländetauglich. Nun ja, vor zwei Tagen mussten sie einen längeren Halt einlegen, um eine gebrochene Achse zu reparieren. Und heute Morgen brachen in einem Schlagloch mehrere Speichen des Hinterrads eines anderen Wagens. Sie waren daraufhin gezwungen, das Rad auszuwechseln.
Zum Glück fand Hajtasch in Penira einen erfahrenen alten Wagenführer, der unterwegs die meisten Reparaturen selbständig ausführen kann. Als der Mann erfuhr, in welch abgelegene Gegend die Reise führen sollte, bestand er darauf, zwei Ersatzräder und eine größere Menge an Werkzeugen mitzunehmen. Der Shalen muss zugeben, dass sich das bereits gelohnt hat. So können die meisten Schäden abends im Lager in Ruhe repariert werden, ohne dass sie auf fremde Hilfe angewiesen sind. Zudem verlieren sie nicht die kostbaren Tagesstunden für langwierige Unterhaltsarbeiten. Trotzdem, allein und mit guten Pferden wären er, sein Diener Tejlish und seine Schülerin wesentlich schneller unterwegs. Zudem müsste er sich nicht mit den derben Wagenlenkern auseinandersetzen. Hajtash ist bessere Gesellschaft gewohnt. Obwohl er darauf achtete, nur bekennende Anhänger des Feuerkultes mit auf diese Reise zu nehmen, war er gezwungen, sich mit Menschen zu umgeben, mit denen er in Penira niemals ein Wort wechseln würde. Er lässt denn auch seinen Diener die täglichen Angelegenheiten der Reise regeln. Hajtash kennt diesen Mann schon sehr lange und schenkt ihm sein Vertrauen, soweit er überhaupt jemandem vertraut. Dazu trägt wohl bei, dass Tejlish keine eigenen magischen Fähigkeiten besitzt und mit großer Bewunderung zu seinem Shalen aufblickt. Er würde alles für ihn tun, und Hajtash weiß das gut zu nutzen.
Anders ist es mit der jungen Frau, die er als zweite Begleiterin auswählte. Gerini besitzt eine außergewöhnliche Begabung in der Feuermagie und deshalb bestimmte er sie zu seiner ersten Schülerin. Die ehrgeizige junge Magierin stammt aus gutem Haus und hat für die anderen Mitglieder der Reisegruppe nur Verachtung übrig. Immer wieder gerät sie mit den Wagenlenkern aneinander. Hajtash beobachtet, wie sie ungeduldig versucht, die beiden letzen Wagen schneller anzutreiben. Er unterdrückt ein spöttisches Lächeln. Seine Schülerin muss noch viel lernen, bis sie daran denken kann, ihren Meister herauszufordern. Der Shalen gibt sich keinen Illusionen hin. Es ist kaum jemandem bekannt, dass er seine Stellung als oberster Meister des Feuerkultes nur erreichte, weil er seinen eigenen Meister herausforderte und in einem magischen Duell besiegte. Er weiß, dass seine Schülerin eines Tages das gleiche versuchen wird. Aber bis dahin liegt noch ein langer Weg vor ihnen und Hajtash beabsichtigt nicht, ihr widerstandslos Platz zu machen. Im Gegenteil, ihre jugendliche Kraft soll ihm noch viel Nutzen bringen.
Er treibt sein Pferd an und reitet auf der holprigen Straße in Richtung des Waldrands weiter. Sie haben heute bereits genug Zeit verloren. Und er hat keine Lust, sich in den Streit zwischen seiner heißblütigen Schülerin und den stoischen Wagenlenkern einzumischen. Manchmal fragt er sich allerdings, wie lange es dauern wird, bis einer der Männer sich an der jungen Feuermagierin zu vergreifen versucht. Aber vermutlich haben alle zu viel Angst vor deren magischen Kräften. Trotzdem, es würde ihr bestimmt nicht schaden, wenn sie von ihrem hohen Ross fallen würde ... Mit einem bösartigen Lächeln schließt Hajtash die Augen. Seine Lippen bewegen sich lautlos, während er mit der Hand vor der Brust ein unsichtbares Zeichen in die Luft malt. Es dauert nicht lange, bis er hinter sich ein Pferd aufgebracht wiehern hört, kurz darauf gefolgt von einem erstickten Aufschrei und einem schweren Aufklatschen im Wasser. Der Shalen verzichtet darauf, zurückzublicken. Das derbe Lachen der Männer sagt ihm genug.
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Onish | Wattys 2015 Gewinner
FantasyDer junge Schattenwandler Onish soll sein abgelegenes Tal verlassen, um in der weißen Stadt Lelai seine Ausbildung abzuschließen. Als er unterwegs der Ausreißerin Kej begegnet, ahnt er nicht, dass das Schicksal ihn und seine neue Bekannte bis ans nö...