Onish 3-15 Die Sturmkrähe

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Die Sturmkrähe

Dánirah erreichte Lelai nach einer angenehmen Reise mit den Händlern. Inzwischen wartet sie allerdings schon zwei Tage auf eine Audienz bei Jakrim, der als viel beschäftigter Magier und Ratsmitglied nicht für jedermann zu sprechen ist. Obwohl Tannarí in Lellini einen besseren Ruf genießen als in Kelèn, ist sie keine Bürgerin von Lelai und muss sich deshalb in Geduld üben. Sie sitzt mit untergeschlagenen Beinen in einem schattigen Hof des weißen Palasts und wartet zusammen mit zahlreichen anderen Bittstellern. Dabei fühlt sie sich ausgesprochen unwohl. Sie ist nicht gewohnt, zwischen Mauern eingeschlossen zu sein. Ihr Leben spielt sich auf den Wegen der einsameren Landstriche ab, dort, wo Tannarí anzutreffen sind.
Ob Jakrim Dánirah heute empfangen wird, ist unsicher. Bereits bis hierher vorzudringen kostete viel Überzeugungskraft. Die Palastwachen versuchten zunächst, sie abzuweisen. Aber die Wahrträumerin der Tannarí blieb hartnäckig und wurde gestern schließlich zum Empfang vorgelassen. Der diensthabende Schreiber meinte, der Schattenmeister würde heute nach der Ratsversammlung einige Besucher empfangen. Er notierte Dánirahs Namen ordentlich in seinem Buch und fügte in der Spalte ‹Anliegen› die Bemerkung ‹persönlich› hinzu. Dabei zog er missbilligend die Augenbrauen hoch. Aber die Wahrträumerin hält sich strikt daran, ihre Träume nur direkt betroffenen Personen zu erzählen. Dieser Beamte gehört nicht dazu.
Nun sitzt Dánirah seit dem frühen Morgen hier, in der Hoffnung, Jakrim zu Gesicht zu bekommen. Sie ist überzeugt, dass der Schattenwandler sich an sie erinnern wird, auch wenn seine Wachen und Schreiber hochnäsig behaupten, kein Mitglied des hohen Rats würde sich mit Tannarí abgeben. Sie spielt mit ihren Armringen und lehnt den Kopf gegen die kühle weiße Wand. Die Tanna versucht, gleichmäßig durchzuatmen. Zumindest gibt es in diesem Hof Schatten und einen Brunnen, aus dem die Wartenden trinken können.
Wenn Dánirah die Augen schließt, sieht sie die Bilder ihres letzten Traums. Sie erkennt das als Zeichen der Dringlichkeit. Es ist wichtig, dass sie den Inhalt des Traums den Betroffenen bald mitteilt. Leider weiß sie nicht, wie sie Onish und die Nirahn finden soll. Den Lellinijungen kennt sie nicht, also bleibt ihr nur, auf eine Audienz mit Jakrim zu hoffen.
Dánirah schlägt die Augen auf, als das Geräusch einer zufallenden Tür an ihr Ohr dringt. Alle Bittsteller mustern neugierig dem schlanken Jungen, der mit eiligen Schritten den Hof überquert. Dánirah springt auf. Dies ist der Junge aus ihrem Traum! Mit wenigen Schritten steht sie vor ihm. Es besteht kein Zweifel, das sind die gleichen ungezähmten Locken, braunen Augen, der volle Mund und die leicht geknickte Nase. Der Junge sieht sie fragend und etwas verängstigt an. Die Wahrträumerin reißt sich zusammen.
«Ich habe von dir geträumt, von dir und deiner Sturmkrähe. Du bist der Schüler des Schattenwandlers Jakrim von der See?»
Der Junge nickt und mustert Dánirah eingehend. Sie weiß, dass sie diese Gelegenheit nutzen muss, bevor ein misstrauischer Schreiber die Wachen ruft. Sie senkt ihre Stimme.
«Ich bin Dánirah, Tochter von Shonai, Wahrträumerin der Tannarí. Ich sah dich und Jakrim in einem Traum. Ich denke, ihr solltet davon wissen, du und der Schattenwandler von der See.»
«Ich kann dich nicht in den Palast lassen. Aber ich werde Jakrim von dir erzählen.»
Dánirah lächelt dem Jungen dankbar zu und kehrt an ihren Schattenplatz zurück. Jakrims Schüler folgt ihr mit seinem Blick und verlässt den Hof eilig mit nachdenklichem Gesicht.

Es dauert nicht lange, bis Jakrim den Besucherhof betritt, dicht gefolgt von seinem Schüler. Diesmal stehen alle Bittsteller auf. Die Hoffnung steht den meisten ins Gesicht geschrieben. Aber der Schattenwandler hat nur Augen für eine Person. Mit raschen Schritten steht er vor der dunkel gekleideten Tanna.
«Dánirah! Es ist gut dich zu sehen. Sanesh sagt, ein Traum führe dich zu uns?»
«Jakrim von der See. Ich grüße dich. Mein Traum ist seltsam und betrifft nicht nur dich. Aber du bist der einzige, dessen Aufenthaltsort mir bekannt war. Ich glaube, Onish und seine Begleiterin brauchen Hilfe.»
Jakrim zieht fragend die Augenbrauen hoch. Aber bevor Dánirah ihren Traum erläutern kann, nimmt er sie am Arm und führt sie in den Palast. Am Pult des diensthabenden Schreibers bleibt er kurz stehen. Seine Stimme ist scharf.
«Das ist Dánirah, die Hüterin der Träume. Sorg dafür, dass sie augenblicklich zu mir gebracht wird, falls sie jemals wieder nach mir fragt, selbst wenn ich beschäftigt bin. Hast du verstanden? Heute werde ich keine weiteren Termine wahrnehmen. Sag den Leuten, dass sie nach Hause gehen können.»
Dánirah lächelt schwach über das entsetzte Gesicht des Schreibers, der offenbar den Zorn des Schattenwandlers mehr fürchtet, als denjenigen der erfolglosen Bittsteller.

Onish | Wattys 2015 GewinnerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt