Der ewige Fluss
Fanlaita betrachtet ihren unruhig schlafenden Sohn. Mirim wirft sich unablässig von einer Seite auf die andere und stöhnt dabei herzzerreißend. Die Königin bangt immer noch um seine Gesundheit. Sie befeuchtet ein Tuch und legt auf die heiße Stirn des Jungen. Es verschafft ihm momentan etwas Linderung. Leise öffnet sich die Tür und Talai betritt den Raum. Fanlaita legt warnend einen Finger auf die Lippen. Aber sie sorgt sich umsonst, ihre Tochter weiß längst, dass sie den kranken Bruder nicht aufwecken darf. Sie nähert sich vorsichtig dem Bett und mustert Mirim mit großen Augen. Dann wendet sie sich fragend an die Mutter.
«Wann kann Mirim mit mir spielen?»
Die Königin nimmt ihre Tochter auf den Schoß und flüstert ihr leise ins Ohr.
«Wenn er wieder gesund ist. Es geht ihm jeden Tag etwas besser. Bestimmt ist es bald soweit. Wir müssen viel Geduld haben. Hilfst du mir dabei?»
Das Mädchen nickt ernsthaft. Fanlaita streicht ihm liebevoll durchs Haar. Talai sollte eigentlich fröhlich mit ihrem Bruder spielen statt an seinem Krankenbett zu sitzen. Die Königin seufzt und wechselt das Tuch auf der Stirn ihres Sohnes aus, bevor sie ihre Tochter zur Tür begleitet. Dort ruft sie mit verhaltener Stimme eine Dienerin.
«Bitte begleite die Prinzessin auf einen Spaziergang im Garten. Es ist so schönes Wetter draußen, sie sollte nicht hier drinnen herumsitzen. Vielleicht findest du im Palast ein gleichaltriges Mädchen, mit dem sie spielen kann. Ach ja, und sorg dafür, dass der Heiler zu mir gebracht wird, sobald er ankommt.»
Die Dienerin macht einen höflichen Knicks und nimmt Talais Hand. Geschickt verwickelt sie das Mädchen in ein Gespräch, während sie mit ihm den Raum durchquert. Fanlaita blickt den beiden wehmütig hinterher. Die Dienerin ist einige Jahre älter als sie selbst und hat vermutlich eigene Kinder, nach der Art zu urteilen, wie sie mit Talai plaudert. Vielleicht hat sie sogar eine Tochter, mit der die Prinzessin spielen kann? Die Königin seufzt. Nur zu gern würde sie selber mit Talai den Palastgarten besuchen. Aber sie fühlt sich verpflichtet, über ihren Sohn zu wachen. Leise schließt sie die Tür und kehrt an Mirims Bett zurück.~ ~ ~
Haitash tritt ans Fenster seines großzügigen Wohnzimmers und wirft einen Blick zur Sonne. Es ist Zeit für seinen täglichen Besuch in den königlichen Gemächern. Er trinkt das Glas mit rubinrotem Wein aus und stellt es sorgfältig auf den massiven Eichentisch. Ein Diener wird es wegräumen. Mit langen Schritten begibt er sich zu seinem Schlafraum, um sich die zeremonielle weiße Robe überzuziehen. Seit einigen Tagen trägt er sie offen, als Zeichen seiner Position, seiner neu errungenen Macht an der Spitze des Ordens. Den Stab lässt er in einer Ecke stehen. Er braucht ihn nicht wirklich, benutzt ihn nur während den Ritualen als Fokus für seine Zuschauer. Wenn Haitash sich zu Pentims Palast begibt, versucht er einen möglichst harmlosen Eindruck zu erwecken. Der Stab würde dem entgegenwirken. Jetzt, wo der Magier seinem Ziel so nahe ist, darf er sich keine Fehler erlauben. Vor einem großen Spiegel bleibt er stehen, um seine Erscheinung zu begutachten. Zufrieden lächelt er seinem Spiegelbild zu. Genau richtig, sauber aber schlicht, so wie es die Königin bei ihren Bediensteten mag.
Es wird Zeit, dass er den Druck auf Fanlaita erhöht. Heute wird Haitash damit beginnen, sie in seine Rituale einzubinden.~ ~ ~
Kej beobachtet gespannt, wie Rihàn einige schwarz geröstete Bohnen in ihrem Mörser zertrümmert. Das braunhaarige Mädchen lacht dabei schelmisch. Es macht ihm Spaß, die Fremde in die Geheimnisse der nördlichen Küche einzuführen. Rihàn muss zugeben, dass Kej eine exzellente Köchin ist. Aber sie hat von den meisten Zutaten keine Ahnung, die an Bord eines Schiffes aus Lejit alltäglich sind. Die Stimmung zwischen den beiden jungen Frauen verbesserte sich in den vergangenen Tagen entschieden. Delani meinte gestern gutmütig, er hätte eine Köchin an Bord geholt, damit Rihàn mehr Zeit für die Bootsarbeit finde, nicht damit sie nun ständig mit Kej in der Küche sitze. Akím bemerkte darauf lakonisch, es könne Rihàn nicht schaden, etwas von Kej zu lernen. Aber keiner der Männer beklagt sich über die Qualität des Essens, das sie vorgesetzt bekommen.
«Die Bohnen müssen gut zertrümmert sein. Am besten wäre es, sie zu mahlen, aber ich habe keine passende Mühle. So. Nun gießt du heißes Wasser darüber und lässt das Ganze stehen, nicht zu lang, es wird getrunken, solange es heiß ist. Lass uns die Becher bereitstellen!»
Kej mustert skeptisch die schwarze Brühe. Der Geruch ist nicht übel, aber sehr stark. Sie holt sechs Becher aus dem Schrank, in dem sie in speziellen Halterungen aufbewahrt werden. Sie hat längst begriffen, dass es auf einem Schiff ratsam ist, keine Gegenstände herumstehen oder -liegen zu lassen. Vorsichtige füllt Rihàn einen Becher nach dem anderen durch ein feinmaschiges Sieb und rührt dann in jeden etwas Honig ein.
«Das ist zum Süßen. Das Zeug ist ziemlich bitter.»
Sie nimmt geschickt drei der Becher auf und bedeutet Kej, ihr mit den übrigen zu folgen. Delani steht am Steuer, in ein angeregtes Gespräch mit Akím vertieft. Es ist bereits warm, obwohl noch früh am Vormittag. Aber der Wind ist fast eingeschlafen. Onish und Saneshs sitzen zusammen im Schatten des Segels. Rihàn fordert die beiden im Vorbeigehen auf, nach achtern zu kommen. Dort drückt sie ihrem älteren Bruder und Vater je einen Becher in die Hand.
«Ich habe Kej gezeigt, wie man Kaffee macht. Sie hat noch nie davon gehört.»
«Dann haben wir ja heute Glück. Meist ist es Rihan zu mühsam, uns etwas aufwendigeres zuzubereiten als Kräutertee.»
Rihàn knufft ihren Bruder gutmütig in die Seite. Onish nimmt unterdessen Kej zwei Becher ab und reicht einen seinem jungen Schüler. Delani mustert seinen jüngsten Sohn skeptisch.
«Meinst du, es geht dir gut genug dafür?»
«Ach komm schon, Dada, so gut ging es ihm schon ewig nicht mehr. Lass es ihn zumindest versuchen.»
Durch Rihàns Unterstützung motiviert führt Sanesh mit einem Grinsen den Becher zum Mund. Kej sieht ihm skeptisch zu und lacht laut heraus, als er schluckt und gleich darauf entsetzt das Gesicht verzieht. Delani und Akím schließen sich ihr an.
«Ich glaube, du solltest damit vorsichtig sein, Sanesh. Vielleicht bleibst du im Moment besser bei Rihàns Kräutertee.»
Angewidert betrachtet der Junge das Gebräu. Aber bevor er es über Bord schütten kann, nimmt ihm Akím den Becher aus der Hand. Kaffee ist zu kostbar, um ihn einfach wegzugiessen. Vorsichtig kosten nun auch Onish und Kej von der schwarzen Flüssigkeit. Überrascht zieht Kej die Brauen hoch. Das Getränk ist bitter, aber im Geschmack gar nicht übel. Onish schüttelt leicht den Kopf.
«Gewöhnungsbedürftig, aber ich verstehe, weshalb sich Dánan manchmal danach sehnt. Ich werde ihr davon mitbringen müssen, wenn ich nach Atara zurückkehre. Woher kommt es?»
«Händler bringen die Bohnen über das Nordmeer. In Lejit und Lelai hat Kaffee inzwischen viele Anhänger. Manchmal bringe ich eine Ladung davon bis hinauf nach Penira. Man sagt, dass die Königin selbst eine große Vorliebe dafür hat.»
Kej wischt sich den Schweiß von der Stirn und lächelt, als sie einen zweiten Schluck Kaffee nimmt. Er ist bitter, aber sie mag den Geschmack. Wer hätte gedacht, dass sie einmal ein königliches Getränk kosten darf!
Sanesh überlässt die Erwachsenen dem fraglichen Genuss und holt sich einen Becher Wasser. Delani blickt ihm nachdenklich nach und wendet sich an Onish.
«Ich habe ihn seit langem nicht mehr so munter gesehen. Du konntest ihm tatsächlich helfen.»
«Ich habe ihm nur gezeigt, wie er seine Energie ergänzen kann. Er ist ein begabter Schattenmagier, braucht aber unbedingt eine richtige Schulung. Ich verstehe zu wenig von seiner Art der Magie. Er kann das Wetter beeinflussen, was ich bisher nicht für möglich hielt. Das ist eine gefährliche Begabung. Wenn er sie nicht richtig beherrscht, wird er früher oder später großen Schaden anrichten.»
«Wettermagie könnte für einen Flussschiffer nützlich sein!»
«Oder tödlich. Das Wetter ist nicht leicht zu verstehen, und bei jeder magischen Tätigkeit muss ein Gleichgewicht bewahrt werden. Wenn ein Wettermagier für einen bestimmten Ort gute Bedingungen erwirkt, löst er aber damit unter Umständen anderswo einen gefährlichen Sturm aus. Die Legenden sind voller Beispielen für solche Zusammenhänge.»
«Was schlägst du vor?»
Akím mustert Onish gespannt. In diesem Moment verlässt Sanesh die Kombüse. Kej geht ihm entgegen und verwickelt ihn in ein angeregtes Gespräch über ein schlankes, von zahlreichen Rudern getriebenes Schiff, das ihnen entgegenkommt. Delani grüßt den fremden Steuermann mit einer Geste und nickt Onish zu.
«Deine Freundin hat eine Begabung, im richtigen Moment das Richtige zu tun,»
«Ja, das hat sie, aber sag ihr das bitte nicht. Sie tut sich schwer damit, ihre eigenen Gaben zu akzeptieren. Für Sanesh solltest du einen Schattenwandler suchen, der ihm beibringt, was er wissen muss. Vielleicht ist Jakrim bereit, ihn als Schüler anzunehmen.»
«Jakrim? Der Zauberer von Lelai?»
Rihàn starrt Onish entsetzt an. Delani wirft seiner Tochter einen vorwurfsvollen Blick zu.
«Jakrim ist ein angesehenes Mitglied der Regierung von Lelai. Niemand wagt, ihn einen Zauberer zu nennen. Ich bezweifle, dass er Zeit hat, sich um einen einfachen Schifferjungen zu kümmern.»
«Meine Lehrerin Dánan vom Berg schickt mich zu Jakrim von der See, um meine Ausbildung zu beenden. Er ist ein großer Schattenwandler. Ich werde ihn fragen, ob er Sanesh helfen kann.»
Delani nickt. Rihàn will aufbegehren, aber Akím bedeutet ihr zu schweigen.
«Ich finde, wir sollten Onish entscheiden lassen, was das Beste für Sanesh ist. Oder hast du ihn in den vergangenen Monden jemals so fröhlich gesehen, Rihàn?»
Zögernd schüttelt das Mädchen den Kopf und mustert Sanesh. Dieser beantwortet mit ausladenden Gesten eine Frage Kejs. Die beiden lachen fröhlich und unbeschwert. Niemand würde in diesem Moment glauben, dass der Junge noch vor wenigen Tagen krank im Bett lag.
Akím trinkt schweigend den zweiten Kaffee aus und sammelt die leeren Becher ein, um sie auszuspülen. Delani drückt Rihàn die Ruderpinne in die Hand.
«Onish, lass uns das Segel bergen. Im Moment schlägt es nur und bringt uns nicht vorwärts. Wir sind jetzt auf die Strömung angewiesen.»
Der junge Schattenwandler geht dem Schiffer zur Hand. Bald ist das Segel gerollt und festgezurrt. Plötzlich scheint es an Deck noch heißer. Kej wirft Delani einen fragenden Blick zu.
«Wenn wir so langsam fahren, dürfen wir baden?»
Akím, der aus der Kombüse kommt und ihre Frage hört, ist begeistert. Rasch überzeugt er den Vater von dem Vorhaben. Delani lacht gutmütig. Onish spürt, dass der Schiffer so erleichtert über Saneshs Besserung ist, dass er mit fast allem einverstanden wäre. Er kann sich für die die Idee nicht begeistern, trotz der Hitze. Aber Akím und Kej lassen sich nicht von ihrem Vorhaben abbringen. Der junge Mann bereitet ein langes Seil mit dicken Knoten vor, das er an einer Klampe befestigt und über Bord ins Wasser hängt. Dann zieht er sich bis auf seine Hose aus und grinst Kej zu.
«Nun, bist du bereit? Wer ist zuerst im Wasser?»
Kej lässt sich nicht lange bitten. Sie lässt ihren unvermeidlichen Hut aufs Deck fallen. Ohne sich die Zeit zu nehmen, sich auszuziehen, springt sie mit einem eleganten Kopfsprung in den Fluss. Grinsend taucht sie gleich darauf neben dem Schiff wieder auf und streicht sich nasse Haarsträhnen aus den Augen.
«Was ist, Akím, hast du Angst vor dem Wasser?»
Das lässt sich der junge Schiffer nicht zweimal sagen. Mit Anlauf lässt er sich neben Kej ins Wasser plumpsen. Onish sieht eifersüchtig zu, wie die beiden sich eine Wasserschlacht liefern. Sanesh zieht unterdessen ebenfalls sein Hemd aus. Trotz Rihàns Bedenken ist er der nächste, der sich ins Wasser fallen lässt und fröhlich zwischen den anderen herumpaddelt. Delani bietet seiner Tochter an, sie am Ruder abzulösen. Aber diese lehnt entsetzt ab, ebenfalls schwimmen zu gehen. Onish ist hin und hergerissen. Einerseits beneidet er die anderen um die Abkühlung und den Spaß, andrerseits fürchtet er sich davor, ins Wasser zu gehen. Kej scheint sein Dilemma zu spüren.
«Komm schon, Onish, ich habe versprochen, dich schwimmen zu lehren. Das ist der Moment dazu.»
«Sie hat recht, dies ist ein guter Moment, es zu versuchen. Komm schon, du kannst dich am Seil festhalten. Wir lassen dich nicht ertrinken.»
Akíms Versicherung bringt Onish schließlich dazu, sein Hemd auszuziehen und sich entlang des Seils ins Wasser gleiten zu lassen. Der Fluss ist immer noch trübe, aber das Wasser ist angenehm kühl nach der Hitze an Deck. Krampfhaft hält Onish sich am Seil fest. Kej versucht, ihm die Prinzipien des Schwimmens zu erklären. Aber schließlich kopiert er einfach Saneshs Paddelstil, mit dem es ihm gelingt, den Kopf über Wasser zu halten. Akím lacht.
«Sieh her, Rihàn, Onish kommt aus den Bergen und fühlt sich im Wasser schon wohler als du.»
Aber seine Schwester lässt sich nicht motivieren, es ebenfalls zu versuchen. Sie beachtet den Bruder nicht und konzentriert sich voll auf das Steuern des langsam dahintreibenden Schiffs. Schließlich fordert Delani die Badenden auf, an Bord zurückzuklettern.
«Wir erreichen gleich die großen Sandinseln. Da gibt es Krokodile. Ich will niemanden von ihnen verschleppen lassen.»
Sehr rasch sind alle wieder an Deck. Während sich Onish das Hemd überzieht mustert eine klatschnasse Kej skeptisch die weit entfernten Ufer.
«Stimmt das mit den Krokodilen? Ich dachte, das sind Geschichten.»
Akím und Delani lachen.
«Sehr lebendige Geschichten. Natürlich gibt es hier Krokodile. So weit südlich ist die Chance, auf ein großes zu treffen, allerdings gering. Je weiter wir nach Norden kommen, desto weniger ratsam ist es aber, im Fluss zu schwimmen.»
Sanesh findet Kejs entsetzten Gesichtsausdruck zum Lachen. Onish beobachtet aber nachdenklich den Fluss. Er würde gerne seine neu erworbene Fähigkeit weiter üben. Aber einmal mehr wird ihm klar, dass jede Gegend ihre eigenen Gefahren birgt und ihre eigenen Spielregeln kennt. Er beschließt, sich von Akím und Delani noch mehr über den Haon erzählen zu lassen. Als er sich neben Rihàn an die Reling lehnt, kann er sich eine Frage trotzdem nicht verkneifen.
«Weshalb gehst du nicht ins Wasser?»
«Hast du Dada nicht gehört? Es gibt hier Krokodile. Ich lasse mich ganz bestimmt nicht von denen zur Mahlzeit verarbeiten.»
Sanesh wirft der großen Schwester einen vorwurfsvollen Blick zu.
«Du weißt genau, dass sie hier nicht gefährlich sind. Außer wenn du sie erschreckst oder auf sie drauftrittst. Aber das machst du bestimmt nicht mitten im Fluss.»
Rihàn antwortet nicht und Onish fragt nicht nach. Er spürt, dass das Mädchen vor dem Fluss und den darin lebenden Tieren Angst verspürt.
Während sich Akím und Delani unter Deck hinlegen beschließt er, Saneshs magische Übungen fortzusetzen. Kej gesellt sich dazu. Obwohl ihre Magie anders geartet ist, kann sie doch beim Zusehen einiges lernen. Ihre Kleider sind noch nass und sie sucht sich einen Platz an der Sonne.
Onish erklärt Sanesh, wie er aus den Bewegungen der Schatten Energie gewinnt und versucht ihm zu zeigen, wie er die gesammelte Schattenenergie einsetzen kann. Aber Sanesh hat Mühe, die einfachen Übungen zu wiederholen. Es gelingt ihm nicht, einen Strohhalm von der Verpackung der Honigtöpfe anzuzünden. Onish spürt, wie sein Schüler unruhig wird. Geduldig versucht er, ihm immer neue Wege zum Einsatz der Schattenenergie zu erschließen. Manchmal zeigen sich kleine Erfolge, vom Ende des Strohhalms kräuselt sich schwarzer Rauch. Aber nur selten gelingt es Sanesh, seine Energie zu fokussieren. Die Glut verlischt, bevor das Stroh richtig brennt. Onish seufzt und versucht es mit dem Wärmen von Wasser in einem Becher. Aber der Effekt bleibt aus. Es ist unklar, ob die Temperatur im Becher steigt, weil die Sonne aufs Deck brennt oder ob Saneshs Anstrengungen tatsächlich Wirkung zeigen. Onish will die Lektion abbrechen, als das Krächzen einer Krähe ihn zum Himmel hochblicken lässt. Kej folgt seinem Blick. Dort drüben, über dem westlichen Ufer türmen sich bedrohlich schwarze Wolken. Onish ist sicher, dass die soeben noch nicht da waren. Kej springt auf und weist Rihàn mit ausgestrecktem Arm auf ihre Entdeckung hin. Diese wird bleich. Kej zögert nicht und rennt los, um Delani und Akím zu wecken. Onish betrachtet nachdenklich die Wolkentürme, die schnell wachsen und bereits fast den halben Himmel bedecken. Dann wirft er einen Blick auf seinen Schüler. Sanesh nimmt fröstelnd Onishs Hand. Der Schattenwandler nickt gedankenverloren. Es ist, wie er vermutete. Sanesh besitzt die seltene Begabung der Wettermagie. Und weil es ihm heute nicht gelang, seine mit Onishs Hilfe gesammelte Energie anders abzubauen, türmte er ein Gewitter auf.
Delani stürzt an Deck, dicht gefolgt von Kej und Akím. Er verliert keinen Moment und lässt die beiden jungen Männer die Rah mit dem Segel aufs Deck senken und festzurren und hilft schließlich sogar, den Mast umzulegen. Immer wieder wirft er Blicke zu den Wolken, die inzwischen den Himmel überziehen. Als alles an Deck festgezurrt ist, übernimmt er selber das Ruder. Onish tritt zu Kej, die an der Reling gelehnt Sanesh festhält. Der Junge sieht ihn verängstigt an.
«Ich wollte das nicht. Was soll ich tun?»
Onish streicht ihm beruhigend durchs Haar. Aber er weiß auch nicht, was er machen soll. Irgendwie muss sich Saneshs Energie wieder entladen. Erste schwere Regentropfen prasseln aufs Deck. Rihàn bittet Kej, Onish und Sanesh, unter Deck Schutz zu suchen, aber alle lehnen ab. Plötzlich löst sich Kej aus ihrer Starre und verschwindet im Niedergang. Gleich darauf kommt sie mit ihrer Flöte zurück. Im Regen setzt sie sich aufs Deck und beginnt zu spielen. Sanesh betrachtet sie verwundert. Onish erkennt verblüfft ihre Absicht.
Kej spielt für Sanesh, eine langsame, beruhigende Melodie, die im Regen fast untergeht. Fasziniert beobachtet sie der Junge. Aber Onish hat nur Augen für die Gewitterwolken, die sich nach und nach auflösen, als ob es sie nie gegeben hätte.
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Onish | Wattys 2015 Gewinner
FantasyDer junge Schattenwandler Onish soll sein abgelegenes Tal verlassen, um in der weißen Stadt Lelai seine Ausbildung abzuschließen. Als er unterwegs der Ausreißerin Kej begegnet, ahnt er nicht, dass das Schicksal ihn und seine neue Bekannte bis ans nö...