Onish 3-18 Hüterin der Drachen

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Hüterin der Drachen

Die Inseln von Tansha kommen am Vormittag des dritten Tages auf See erstmals in Sicht. Onish hat inzwischen seine Seekrankheit überwunden und fühlt sich an Bord wieder so wohl wie vorher auf dem Fluss. Er ist dabei, das Geschirr vom Frühstück in die Kombüse zu tragen, als Rihàns Ruf ihn aufblicken lässt. Eigentlich ist zu diesem Zeitpunkt erst eine langgestreckte Wolkenbank dicht über dem Horizont zu erkennen. Akim behauptet, das wäre ein sicheres Zeichen, dass dort eine Insel liege. Delani meint, es könne Abend werden, bis die Sandinseln zu erkennen seien. Trotzdem hält Kej schon eifrig und aufgeregt nach den Shahraní Ausschau. Onish entgeht nicht, dass Dánirah die junge Magierin aufmerksam beobachtet. Er hilft Rihàn beim Abwasch und stellt sich dann neben die Tanna an die Reling.
«Du schenkst Kej seit Tagen viel Aufmerksamkeit. Gibt es etwas, dass ich wissen sollte, Dánirah?»
«Nichts, was dich belasten muss. Ich hatte einen Traum. Er betrifft wohl Kej, sie war die einzige Person darin, außer den Shahraní. Allerdings verstehe ich die Bedeutung nicht.»
«Hast du mit Kej gesprochen?»
Dánirah schüttelt den Kopf und mustert nachdenklich die Wolke, welche die Inseln von Tansha ankündet. Onish will die Wahrträumerin nicht drängen, über ihren Traum zu sprechen. Er weiß, dass das in den Augen der Tannarí Unglück bringt. Dánirah zuckt die Schultern.
«Hast du schon daran gedacht, dass deine Freundin die Hüterin der Drachen sein könnte?»
Onish starrt sie ungläubig an. Natürlich kennt er die beliebte Kindergeschichte. Seine Tante erzählte sie, als er noch ein kleiner Junge war. Später fand er die Legende in einer Sammlung alter Texte in Antims Bibliothek. Ist das, was Dánirah vorschlägt, überhaupt möglich? Laut der Legende sorgte die Hüterin der Drachen dafür, dass Menschen und Shahraní konfliktfrei nebeneinander leben konnten. In zahlreichen Geschichten schlichtet die Magierin mit Witz und Geschick Streitigkeiten und bringt sowohl die Menschen als auch die Feuerdrachen dazu, sich gegenseitig zu respektieren. Onish glaubte bisher, dies seien gut erfundene Erzählungen mit moralischem Inhalt. Laut Antims Text wurde die Hüterin der Drachen von einem mächtigen Magier getötet, der mithilfe der Shahraní die Menschheit unterjochen wollte. Nach dem Tod der Hüterin machten die Menschen Jagd auf die Drachen und bald verließen diese das Land oder starben aus. Onish reibt sich nachdenklich das Kinn. Sein Bartwuchs ist in den letzten Monden kräftiger geworden und wird jetzt, in der Hitze, unangenehm. Trotzdem erinnert ihn der Bart daran, dass er mittlerweile als Mitglied der Schattenwandlergilde eine wichtige Aufgabe zu erfüllen hat. Wenn Dánirahs Vermutung stimmt, gilt das auch für Kej.
«Wenn du recht hast, erklärt das Kejs besondere Begabung. Sie ist fasziniert von den Shahraní. Aber ist die Hüterin der Drachen nicht längst tot?»
«Möglicherweise ist das genauso ein Amt wie dasjenige des Schattenwandlers vom Weg. Solange es keine Drachen gab, brauchte es keine Hüterin. Aber nun bricht ein neues Zeitalter an, mit neuen Shahraní und einer neuen Hüterin.»
Onish nickt und blickt zu Kej hinüber, die im Bug Ausguck hält. Sobald sie die Feuerdrachen finden, wird sich diese Frage hoffentlich klären.

Kej entdeckt die Shahraní am späten Nachmittag. Im goldenen Licht der Abendsonne lassen sie sich kaum von den zahllosen Seevögeln unterscheiden, die den Himmel und das Meer rings um die Inseln von Tansha bevölkern. Wie von Delani angekündigt, handelt es sich um flache Sandinseln, die außer langem, hartem Gras kaum Vegetation aufweisen. Die salzigen Böden eignen sich nicht für die Landwirtschaft. Deshalb finden Seevögel auf den menschenleeren Inseln ungestörte Nistplätze - Vögel und nun auch Shahraní.
Bei Kejs freudigem Aufschrei versammeln sich alle an der Reling. Onish folgt mit dem Blick ihrem ausgestreckten Arm. Tatsächlich, die Silhouette des mächtigen Vogels, der voraus seine Kreise zieht, wirkt seltsam. Der Hals ist zu lang, zu beweglich und wird durch einen langen Schwanz ausgeglichen, der in einem spatenförmigen Schild endet. Plötzlich streckt der Drache den Kopf steif geradeaus und lässt sich senkrecht in die Tiefe fallen. Mit einem Spritzen verschwindet er in den Wellen, um kurz darauf mit einem zappelnden Fisch im Mund wieder aufzutauchen.

Onish | Wattys 2015 GewinnerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt