Onish - Epilog

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Epilog

Holàn streicht sich eine Strähne ihres langen braunen Haars hinters Ohr und hebt ihren Korb wieder auf. Der Aufstieg erscheint ihr heute besonders anstrengend. Erbarmungslos brennt die Sonne auf den weißen Sand der großen Düne. Sie hat den Pinienwald hinter sich gelassen und steigt im feinen Sand aufwärts. Für jeden Schritt, den sie vorwärts macht, rutscht sie einen halben zurück. Normalerweise würde sie warten, bis ihre Freundin am Abend heimkehrt. Aber heute will sie ihr so rasch wie möglich die Neuigkeiten erzählen.
Als sie endlich den Dünenkamm erreicht, ist sie außer Atem und muss einen Moment innehalten. Sie lässt den Blick hinaus übers endlose Meer schweifen. Direkt vor der Küste, von dieser durch tiefblaue Rinnen und türkisfarbene Untiefen getrennt, liegen die Sandinseln von Tansha. Holàn stapft durch den lockeren Sand weiter. Bald erkennt sie auf einer Erhebung voraus eine bekannte Gestalt.
Kej steht kerzengerade auf dem Dünenkamm, zum Schutz vor dem Wind in ihre uralte, nur noch aus Flicken bestehende Jacke gewickelt. Ihre langen roten Locken wehen ungebunden im Wind. Sie beobachtet die fünf halbwüchsigen Feuerdrachen, die draußen über der Bucht Kreise ziehen. Holàn tritt näher und stellt ihren Korb im Sand ab, um die Freundin zu begrüßen. Sofort setzt eine Shahran zur Landung an und schnuppert neugierig am Korb.
«He, Hie, das habe ich für Kej mitgebracht, nicht für dich!»
«Ich glaube, sie weiß das. Aber sie ist grenzenlos neugierig. Alles was ungewohnt riecht, muss sie sofort erkunden.»
Die junge Shahran legt den Kopf schief, als hätte sie jedes Wort verstanden. Holàn krault die weiche Stelle unter dem Kinn des Drachen. Hie genießt die Zärtlichkeit mit geschlossenen Augen. Kej unterdrückt ein Lachen.
«Du verwöhnst sie. Bald wird sie darauf bestehen, mit dir ins Dorf zurückzukehren, damit sie öfter gekrault wird.»
«Das gäbe einen Skandal in Diunesh. Jetzt, wo die Leute sich allmählich an dich und die Shahraní gewöhnen und nicht mehr fürchten, dass ihre Häuser eines Nachts in Flammen aufgehen.»
«Dabei hat bestimmt geholfen, dass Eld vor einigen Monden diesen Jungen aus dem Wasser zog. Er wäre sonst ertrunken.»
Holàn nickt. Das Kind hatte Glück, dass Eld beobachtete, wie es unbemerkt von seinem Vater über Bord fiel. Seither betrachten viele Einwohner von Diunesh die Shahraní mit anderen Augen.
«Vielleicht kommt es noch soweit, dass die Fischer von Diunesh die Feuerdrachen zu Schutzpatronen des Dorfes erklären.»
«Wohl eher nicht. Die meisten von ihnen fürchten doch, dass die Shahraní ihre Fische wegfressen.»
«Ich habe so etwas schon gehört. Aber jeder weiß, dass der Fang noch nie so gut war, wie seit ihr hierhergekommen seid. Auch wenn niemand versteht, warum.»
Kej lächelt wissend.
«Die Shahraní jagen nur, was sie brauchen. Sie haben rasch begriffen, welche Fische bei den Fischern beliebt sind und welche nicht. Es fällt ihnen nicht schwer, die Jagd so auszulegen, dass sie die sogenannten Schädlinge dezimieren, während sie den Fischern ihre bevorzugte Beute lassen. Sie versuchen, Konflikte zu vermeiden, denn es gefällt ihnen hier. Mag sein, dass sie irgendwann in ihre Bergheimat zurückkehren. Aber im Moment sind wir hier glücklich.»
Holàn mustert die Freundin nachdenklich. Wenn jemand die Shahraní versteht, ist es Kej. Mit ihrer Flöte kann sie sich fließend mit ihnen unterhalten. Ihr Mund verzieht sich zu einem verschmitzten Lächeln, als ihr der eigentliche Grund für ihren Besuch wieder einfällt. Rasch öffnet sie ihren Korb und holt einen kleinen hölzernen Behälter heraus. Sie beobachtet gespannt Kejs Gesicht, als sie ihr das Kästchen in die Hand drückt.
«Was ist das?»
«Ein Geschenk für dich. Mach es auf!»
«Sag nicht, der Sohn des Bootsbauers wirbt schon wieder um mich. Du hättest ihm gleich sagen können, dass ich nicht interessiert bin!»
«Er hat nichts damit zu tun, er stellt längst einem anderen Mädchen nach. Nun mach schon auf!»
«Von wem ist es? Wenn Delanis Schiff angekommen wäre, hätte ich es gesehen. Außerdem habe ich Rihàn gebeten, mir Stoff aus Lejit mitzubringen, dafür ist das Kästchen zu klein.»
«Delani kommt frühestens in einem Mond zurück. Sie reisen diesmal bis hinauf nach Haonjit. Akim hat mir dafür fest versprochen, Honig aus Gerin mitzubringen. Aber mach endlich dein Geschenk auf, sonst mach ich es!»
Nun schubst auch Hie die Magierin auffordernd an. Kej macht sich daran, die Verschnürung des Kästchens zu öffnen. Vorsichtig klappt sie den Deckel zurück. Er wird von zwei kunstvoll geschmiedeten, winzigen Scharnieren gehalten. Das Innere ist mit weichem Leder ausgeschlagen. Darin ruht, wie ein kostbarer Edelstein, ein einfacher Löffel aus Metall.
Holàn runzelt enttäuscht die Stirn, aber Kej schnappt überrascht nach Luft.

Unwillkürlich tastet Kejs Hand durch die Jacke ihren rechten Oberarm ab. Hier trägt sie den Ring der Wahrheit, den Onish ihr zum Abschied schenkte, Dánirahs Ring. Da sie nichts vergleichbar Wertvolles besaß, gab sie dem Schattenwandler im Gegenzug ihren Löffel. Dieser begleitete sie auf ihrer langen gemeinsamen Reise. Seit dem Abend, an dem sie sich zufällig begegneten, benutzten sie ihn gemeinsam. Eigentlich wollte sich Onish damals einen eigenen Löffel schnitzen. Aber irgendwie wurde er nie fertig damit. Und bald gewöhnten sie sich so daran, Kejs Löffel zu teilen, dass ihnen alles andere seltsam vorgekommen wäre.
Mit der Fingerkuppe streicht sie sanft über das abgenutzte Metall. Sie erinnert sich genau, woher die größten Kratzer stammen, wie sie mit dem Löffel unzählige Male Suppe rührte oder den Stiel benutzte, um Nüsse zu knacken.
Und nun hält sie ihr Abschiedsgeschenk wieder in der Hand. Das kann nur eines bedeuten.
«Onish! Wo ist er? Wann hast du ihn gesehen?»
«Er kam gestern Abend an, wurde aber sofort zu Tilec gerufen. Du weißt, der Fischer, der sich die Hand zerquetschte. Dass ein Schattenwandler nach Diunesh kam, rettete ihm wohl das Leben. Die Wunde ist entzündet. Es war schon die Rede davon, die Hand abzuschneiden. Onish war die ganze Nacht bei ihm. Heute Morgen ließ er nach mir schicken und hat mir das für dich gegeben. Sein Daj war überglücklich, als ich ihn zu Hama in den Stall stellte.»
Kej streicht noch einmal liebevoll über den Löffel, bevor sie das Kästchen schließt und sorgfältig zubindet. Sie steckt es in die Tasche ihrer Jacke und holt daraus ihre Flöte hervor. Für Hie spielt sie eine kurze erklärende Melodie. Dann steckt sie die Flöte ein und grinst Holàn an.
«Komm, lass uns sehen, wer zuerst unten an der Düne ankommt!»
In einer Staubwolke rennt sie in der Falllinie die Düne hinunter. Holàn blickt ihr überrascht nach.
«Warte, ich hab dir noch etwas anderes mitgebracht!»
Aber Kej ist Holàn bereits weit voraus und achtet nicht auf die Zurufe ihrer Freundin. Diese kramt aus dem Korb einige Äpfel hervor und legt sie vor Hie in den Sand.
«Hier, ich weiß, dass ihr die mögt. Lass deine Geschwister von mir grüßen, Hie.»
Dann folgt sie eilig ihrer Freundin. Sie will das Wiedersehen von Kej und Onish nicht verpassen.

Hie stößt zufrieden ein Wölkchen Rauch aus. Darunter mischen sich sogar ein paar Freudenfunken. Schön, dass Kejs Schattenwandler wieder da ist. Mit einem farbigen Gedankenbild ruft die junge Shahran ihre Geschwister. Es wäre schade, wenn die leckeren Äpfel von Ameisen gefressen würden.

Onish | Wattys 2015 GewinnerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt