Onish 1-13 Eine formelle Bitte

815 76 6
                                    

Eine formelle Bitte

Mirim öffnet verschlafen die verklebten Augen und blinzelt seine Mutter an. Durch das Fenster des Zimmers fallen die letzten goldenen Sonnenstrahlen. Er kann sich kaum an die vergangenen Tage erinnern. Nur wenige Bilder haben sich seinem jungen Gedächtnis eingegraben. Dazu gehört das sorgenvolle, verweinte Gesicht der Mutter. Aber heute liegt auf Fanlaitas Zügen ein Lächeln. Das allein genügt, dass sich Mirim etwas besser fühlt.
«Wie geht es dir, mein Sohn?»
«Danke, Mutter. Es geht besser, glaube ich.»
Seine Stimme ist heiser und belegt. Er versucht, seine Kehle mit einem Husten zu befreien. Sofort überzieht Sorge das Gesicht seiner Mutter. Sie schiebt einen Arm unter seinen Oberkörper, um ihm beim Aufsitzen zu helfen. Mit einem feuchten Tuch wischt sie ihm die Augen aus. Mirim fühlt sich schwach und schwindelig.
«Möchtest du etwas trinken? Ich habe hier warmen Tee.»
Er nickt. Ja, er hat Durst. Der Tee ist heiß, er verbrennt sich fast die Zunge. Aber der Schmerz stört ihn nicht. Er hat sich an Schmerzen gewöhnt, unsägliche Schmerzen. Manchmal ist es, als ob sein ganzer Körper in Flammen stünde. Er träumt immer wieder den gleichen Traum. Darin verbrennt er qualvoll in einem großen Feuer. Wenn er dann schweißgebadet erwacht, fühlt sich seine Haut spröde an, seine Augäpfel ausgetrocknet, seine Muskeln glühen. Seine Mutter sitzt jeweils an seinem Bett, legt ihm kühle Tücher auf die Stirn und spricht leise mit ihm. Sie sagt, das Fieber würde bestimmt bald vorbeigehen. Aber Mirim glaubt nicht mehr daran, dass die Schmerzen vorbeigehen. Jedesmal, wenn er erschöpft einschläft, beginnt der schreckliche Traum von neuem.
Mirim nimmt einen weiteren Schluck aus dem Becher, den seine Mutter ihm an die Lippen hält. Heute fühlt er sich tatsächlich besser. Vielleicht hat die Mutter doch recht? Vorsichtig bewegt er die Arme, ganz langsam. Siehe Muskeln sind verkrampft, zusammengezogen in Abwehr gegen den immerwährenden Schmerz. Nur nach und nach gelingt es ihm, sie zu lockern. Als sich seine Arme besser anfühlen, versucht er das gleiche mit den Beinen. Fanlaita betrachtet ihren Sohn liebevoll. Mirim erkennt in ihren Augen Freude darüber, dass er sich besser fühlt. Aber bald sind seine Kräfte erschöpft und er lässt sich zurück in die Kissen sinken.
«Kann ich dir etwas zu essen bringen, Mirim?»
Er schüttelt müde den Kopf. Ihm ist wieder schwindelig. Eigentlich möchte er schlafen, aber er hat Angst davor, dass der Traum wiederkommt. Deshalb sucht er nach einer Ablenkung, etwas dass ihn wachhalten kann.
«Wo ist Talai? Kann ich sie sehen?»
«Ja, natürlich, sie sollte bald ins Bett gebracht werden, aber ich bin sicher, dass sie noch wach ist.»
Seine Mutter scheint überrascht. Als sie aufsteht und zur Tür geht, greift Angst nach Mirims Herz. Er fürchtet sich davor, allein zu sein und vor dem Schmerz. Die Königin öffnet die Tür einen Spalt breit, um einer Dienerin einen Befehl zu geben. Danach kehrt sie sofort ans Krankenbett ihres Sohnes zurück. Mirim atmet tief durch und versucht, sich nichts anmerken zu lassen. Erst als seine Mutter sich wieder setzt, entspannt er sich langsam.
«Talai ist gleich hier. Sie hat dich sehr vermisst, in den vergangenen Monden, so wie wir alle.»
Mirim versucht, zu lächeln. Das Resultat ist eher eine Grimasse. Fanlaita streicht ihm sanft über die Wange.
«Vielleicht solltest du besser schlafen. Du warst lange krank und musst deine Kräfte zurückgewinnen.»
«Nein, ich möchte Talai sehen, bitte. Nur einen kurzen Moment. Darf ich?»
«Natürlich darfst du. Aber sag mir, wenn du müde wirst. Du kannst auch morgen früh mit Talai sprechen, nachdem du geschlafen hast.»
Mirim nickt. Er will nicht zugeben, wie sehr er sich vor dem Schlaf und den Träumen fürchtet. Er ist noch sehr jung, aber er weiß, dass vom Prinzen und Thronfolger erwartet wird, sich seinen Ängsten tapfer zu stellen. Seine Mutter ist immer darauf bedacht, ihn an seine Pflichten zu erinnern.
Die Tür öffnet sich leise. Talai nähert sich ängstlich dem Krankenbett ihres Bruders, an die Hand ihres Kindermädchens geklammert. Die Königin streckt ihrer Tochter einladend eine Hand entgegen.
«Komm, mein Kind. Dein Bruder möchte dich sehen.»
Talai lässt die Hand der Dienerin los und läuft zu ihrer Mutter. Das Kindermädchen verlässt lautlos den Raum. Mirim fällt auf, dass seine Schwester viel besser laufen kann, als vor seiner Krankheit. Sie ist außerdem ein gutes Stück gewachsen. Wie lange er wohl schon krank ist?
«Talai, schön dich zu sehen. Wie geht es dir?»
«Du bist endlich wach! Spielst du mit mir? Ich habe ein neues Spiel erfunden!»
«Dann werde ich sehen müssen, dass es mir bald besser geht, damit du es mir zeigen kannst. Worum geht es in deinem Spiel?»
Talai blickt den Bruder mit großen blauen Augen an.
«Das ist ein Geheimnis. Du musst mit mir spielen und es herausfinden.»
Mirim lächelt der Schwester zu. Es ist das erste richtige Lächeln, das er zustandebringt. Fanlaita presst eine Hand vor den Mund. Sie ist den Tränen nahe, allerdings sind es diesmal Tränen der Erleichterung. Ihr Sohn bemerkt davon nichts. Er konzentriert sich ganz auf seine Schwester.
«Also gut, ich verspreche, dass ich dein Spiel mitspiele, sobald ich das Bett verlassen darf. Was meinst du dazu?»
«Bist du noch lange krank?»
«Ich hoffe nicht. Aber ich weiß nicht genau. Kommst du mich jeden Tag besuchen, wenn ich wach bin?»
Talai wirft der Mutter einen fragenden Blick zu. Die Königin nickt ihrer Tochter freundlich zu. Sie ist zu allem bereit, was ihrem Sohn hilft, gesund zu werden.
«Gut, ich besuche dich jeden Tag. Und Papa auch!»
Diesmal ist es an Mirim, die Mutter fragend anzusehen.
«Der König war jeden Tag mehrmals hier, Mirim. Und mein Vater schickte uns seinen besten Heiler. Wir alle haben uns viele Sorgen um dich gemacht.»
«Das tut mir leid, Mutter.»
«Es muss dir nicht leid tun. Aber du musst so bald als möglich wieder gesund werden. Dazu solltest du viel schlafen. Ich glaube, es ist deshalb besser, wenn wir dich jetzt in Ruhe lassen, nicht wahr, Talai?»
Das kleine Mädchen drückt dem Bruder einen Kuss auf die Wange, bevor Fanlaita es aus dem Zimmer führt. Mirim lässt sich erschöpft in seine Kissen sinken, zu müde, um noch einmal in Panik auszubrechen. Er wünscht sich nichts mehr, als zu schlafen. Aber sobald seine Augen zufallen, lecken schon wieder die Flammen seines qualvollen Traums an seinem ausgelaugten Körper.

Onish | Wattys 2015 GewinnerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt