Blutmagie
Dánan tritt vor die Tür und blickt gespannt hinüber zum Wald. Seit letzter Nacht ist sie überzeugt, dass bald Besuch ihr abgelegenes Tal erreichen wird. Die kleine Miràn spürt die Unruhe ihrer Betreuerin und bemüht sich, Dánan jeden Wunsch von den Augen abzulesen. Die Schattenwandlerin fühlt sich genötigt, dem feinfühligen Mädchen eine Erklärung abzugeben.
«Tut mir leid, wenn ich heute unruhig bin, Miràn. Es liegt nicht an dir. Wir werden bald Besuch bekommen. Aber da ist noch etwas anderes. Ich empfinde eine seltsame magische Spannung.»
Miràn nickt mit großen Augen. Dánan ist stolz auf ihre junge Schülerin. Sie macht täglich Fortschritte und kann inzwischen ganz gut mit ihrer aufkeimenden Schattenmagie umgehen. Zudem erfreut sie sich inzwischen bester Gesundheit. Die Schattenwandlerin nimmt das Mädchen bei der Hand und will mit ihm ins Haus zurückkehren, als sie drüben am Waldrand eine Bewegung wahrnimmt. Es hat bereits seit Tagen nicht mehr geschneit und die dunkeln Nadelbäume sind nicht mehr schneebedeckt. Aus ihrem Schatten löst sich die Gestalt eines Mannes, der ein Pferd am Zügel führt. Ihm folgen einige eingemummte Gestalten. Dánan schüttelt ungläubig den Kopf. Ihr Tal ist nicht einfach zu finden und seit dem Beginn des Winters hat sie es nie verlassen. Es führen also keine Spuren zu ihrem abgelegenen Zuhause. Obwohl sie längst nicht mehr die undurchdringliche magische Abschirmung aufrechthält, die Antim einst um diesen Platz legte, erhält sie nur selten Besuch. Und bisher ist noch nie eine so große Gesellschaft bis hierher aufgestiegen. Dánan zählt vier Männer, die über die verschneite Wiese auf sie zukommen. Die fünfte Gestalt ist zierlicher und schlanker, es muss sich um einen Jungen handeln, oder eher eine Frau. Auf dem Pferd, das müde einen Fuß vor den anderen setzt, sitzen zwei Kinder, beide dick eingepackt. Geduldig warten Dánan und Miràn, bis die Reisenden herankommen.
Der Mann, der das Pferd führt, bleibt einige Schritte vor Dánan stehen und streift die Kapuze zurück. Sein glattrasiertes, sonnengebräuntes Gesicht und das lange schwarze Haar lassen keinen Zweifel daran, dass in seinen Adern ein Teil Tannablut fließt.
«Dánan vom Berg, Hüterin der Weisheit der Tannarí, ich grüße dich. Mein Name ist Berim.»
«Ich grüße dich, Berim, Sohn meines Volkes. Wen führst du mitten im Winter ins abgelegene Atara?»
Daraufhin tritt die schlanke Gestalt näher und wickelt sich den Schal vom Gesicht. Dánan nickt: sie hatte recht, eine Frau. Das weißblonde Haar hat die junge Kelen zu einem langen Zopf geflochten, der ihr über den Rücken fällt. Ihre Augen sind strahlend blau, ihre gleichmäßigen, von der Kälte und Anstrengung geröteten Züge, verschaffen ihr bestimmt viel Aufmerksamkeit. Sie tritt hoch aufgerichtet auf Dánan zu.
«Ich grüße dich, Schattenwandlerin, und ich bitte um deine Hilfe. Mein Name ist Fanlaita. Dies sind meine Kinder Mirim und Talai.»~ ~ ~
Onish beobachtet Kej, die seit geraumer Zeit mit den Shahraní kommuniziert. Inzwischen ist das zur täglichen Gewohnheit geworden. Kurz nach Sonnenaufgang landen die fünf Feuerdrachen im obersten Burghof von Silita-Suan, um mit Kej Informationen auszutauschen. A'shei nennt das scherzhaft die Drachenschule. Jeden Abend besprechen Silàn, A'shei, Kej, Onish, Ranoz und Noak die Inhalte der nächsten Lektion. Onish ist froh, dass die Hrankaedí sich für das Schicksal ihrer entfernten Verwandten interessieren. Da Drachenschatten nachtaktiv und Feuerdrachen ausschließlich tagaktiv sind, können sie sich nicht direkt miteinander austauschen. Kej und Silàn bestätigen aber, dass beide Drachenarten im Grunde genommen viele Ähnlichkeiten aufweisen. Dazu gehören angeborene Neugier, großer Bewegungsdrang, ausgeprägter Jagdinstinkt und viele gemeinsame Gedankenmuster.
Eines der Ziele von Kejs täglichen Unterhaltungen mit den Shahraní ist, diese davon abzuhalten, Tiere aus den Herden der Bauern im Silitatal zu töten. Silàn möchte verhindern, dass die Feuerdrachen von den Menschen als Feinde wahrgenommen und gejagt werden. Onish ist allerdings nicht sicher, ob sich die Königin da nicht einer Illusion hingibt. Zahlreiche alte Heldengeschichten erzählen von ruhmreichen Kämpfen zwischen tapferen Männern und gefährlichen Drachen. Selbst wenn die Shahraní sich von menschlichen Siedlungen fernhalten und keinen Schaden anrichten, wird früher oder später jemand auf sie Jagd machen, sei es nur des Nervenkitzels willen.
Onish könnte Kejs mit der Flöte geführten Unterhaltung den ganzen Vormittag lang zuhören. Wenn er die Augen schließt, kann er manchmal Teile der Gedankenbilder erhaschen, die ausgetauscht werden. Leider gelingt es ihm nicht, der Unterhaltung zu folgen. Gespannt wartet er jeweils auf Kejs Übersetzung. Endlich verabschieden sich die Shahraní und Kej lässt ihre Melodie ausklingen. Sie blickt den Drachen nachdenklich hinterher.
«Ich weiss nicht, Onish, sie schienen mir heute unruhig. Irgendetwas liegt in der Luft. Spürst du es auch?»
DU LIEST GERADE
Onish | Wattys 2015 Gewinner
FantasyDer junge Schattenwandler Onish soll sein abgelegenes Tal verlassen, um in der weißen Stadt Lelai seine Ausbildung abzuschließen. Als er unterwegs der Ausreißerin Kej begegnet, ahnt er nicht, dass das Schicksal ihn und seine neue Bekannte bis ans nö...