Verstecktes Samenkorn
Endlich hört der Regen auf und die Mittagssonne bringt die Pfützen auf der Straße zum Dampfen. Onish blickt mit gemischten Gefühlen auf die steinerne Brücke hinunter, die Gerin mit Inoira verbindet. Keritaja, ‹Kerims Brücke›, gilt als Meisterwerk der Baukunst. Sie wurde im Auftrag von Sonnenkönig Kerim aus dem Haus Diun erbaut, dem Großvater des heutigen Königs Pentim. Die Brücke aus weißem Kalkstein schwingt sich in drei eleganten Bögen über die Wasser des Flusses Girit. Onish erinnert sich noch genau, wie er damals als Junge mit Antim Keritaja zum ersten Mal überquerte. Ein entgegenkommender Wagens ließ sein Pferd scheuen. Onish, der ein sehr schlechter Reiter war, wurde abgeworfen und verletzte sich am Knie. Gedankenverloren reibt er sich die Stelle, als ob sie noch immer schmerzen würde. Kej beobachtet die Geste.
«Was ist, hast du Schmerzen?»
«Nein, nur wieder eine Erinnerung. Als ich das erste Mal hier war, stürzte ich auf der Brücke vom Pferd. Ich kann von Glück sagen, dass ich nicht auch noch in den Fluss fiel. Gefehlt hat auf jeden Fall nicht viel.»
«Du kannst reiten?»
«Hast du mir nicht zugehört? Ich bin vom Pferd gefallen. Ich bin der schlechteste Reiter, den du dir vorstellen kannst.»
«Schade. Ich mag Pferde. Manchmal durfte ich die Stute meines Onkels reiten. Wir würden schneller vorankommen, wenn wir Pferde hätten.»
«Das stimmt. Zum Glück haben wir es nicht besonders eilig. Pferde sind teuer. Wir verkauften Antims Tiere nach seinem Tod, bei uns im Tal hätten sie im Winter zuwenig zu fressen bekommen. Manchmal wurde das Futter sogar für die Ziegen knapp.»
«Ja, das kenne ich. Dann musste ich mit meinem jüngsten Bruder im Wald Zweige schneiden, damit die Tiere nicht verhungerten. Wer sich wohl jetzt um sie sorgt?»
Onish kann das Heimweh seiner Begleiterin nachempfinden. Um sie abzulenken, erzählt er die Legende vom Bau der steinerne Brücke, während sie der Straße zu dem imposanten Bauwerk folgen. Antim erzählte ihm damals nach seinem Sturz diese Geschichte, wohl um ihn seine Schmerzen vergessen zu lassen.«Weißt du, warum hier eine so großartige Brücke steht, Kej? Als Kerim, Pentims Großvater, ein junger Prinz war, führte ihn ein Kriegszug nach Norden, nach Lellini. Es war einer dieser unzähligen Kriege zwischen den Keleni und ihren angestammten Gegnern, den Lelliní. In der Steppe von Inoira kam es zu einer Schlacht. Ich weiß nicht, wer sie gewann. Auf jeden Fall wurde der Prinz von Kelèn am Bein verletzt und konnte nicht mehr reiten. Seine Krieger brachten ihn nach Ushar, zu einem berühmten Heiler. Diesem gelang es, das Bein des Prinzen zu retten. Aber seine Genesung dauerte lange. Während dieser Zeit verliebte sich Prinz Kerim in die junge Frau, die ihm täglich die Verbände wechselte, die Tochter des Heilers. Die Krieger aus Kelèn waren längst in ihre Heimat zurückgekehrt, als es dem Prinzen endlich gut genug ging, ihnen nachzureisen. Sein Vater, der König schickte ein Schiff, das ihn nach Penira zurückbringen sollte. Da nahm der Prinz seinen Mut zusammen und bat um die Hand der Frau aus Inoira. Diese mochte ihn auch, und der Prinz flehte sie an, ihm nach Penira zu folgen. Aber sie lehnte standhaft ab. Sie wollte das Schiff nicht betreten, denn eine alte Tanna hatte ihr vor Jahren vorausgesagt, dass sie an dem Tag sterben werde, an dem sie sich einem Boot anvertraue. Deshalb weigerte sich die Tochter des Heilers, den zukünftigen König von Kelèn zu heiraten. Denn zwischen Ushar und Penira liegen zwei große Flüsse, egal, ob man über Linar oder Gerin reist. Als der Prinz keine Ruhe lassen wollte, erzählte ihm seine Liebste von der Prophezeiung. Der Prinz bat sie daraufhin, auf ihn zu warten. Er versprach, er werde sie holen, ohne dass sie einen Fuß auf ein Schiff zu setzen brauche. Nach seiner Heimkehr ließ er zwei Brücken bauen, eine hölzerne über den Haon bei Zalkenar und eine steinerne über den Girit. Eigentlich wollte er auch hier eine Holzbrücke errichten. Aber die Wasser des Girit waren zu wild, so dass er schließlich von den besten Baumeistern des Reiches die Steinbrücke Keritaja konstruieren ließ. Inzwischen war sein Vater gestorben. Als die Brücke fertig war, ritt der junge König Kerim nach Ushar, um wie versprochen seine Braut und Königin abzuholen.»
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Onish | Wattys 2015 Gewinner
FantasíaDer junge Schattenwandler Onish soll sein abgelegenes Tal verlassen, um in der weißen Stadt Lelai seine Ausbildung abzuschließen. Als er unterwegs der Ausreißerin Kej begegnet, ahnt er nicht, dass das Schicksal ihn und seine neue Bekannte bis ans nö...