Onish 3-6 Das Lied der Feuerdrachen

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Das Lied der Feuerdrachen

Kej blickt bedauernd Steim nach, der zusammen mit Raill den Burghof verlässt. Die beiden alten Freunde wollen das gute Wetter für einen Jagdausflug nutzen. Sie würde sie gerne begleiten, wollte sich aber nicht aufdrängen. Kej genießt die Aufmerksamkeit, die ihr Steim entgegenbringt. Der ältere, zweifellos attraktive Kelen hat Humor und scheint Gefallen an ihr zu finden. Onishs Reaktion auf ihn entgeht ihr dabei nicht und macht einen Teil des Reizes dieser aufkeimenden Beziehung aus. Allerdings ist der Begriff Beziehung etwas weit hergeholt. Bisher ist zwischen ihr und Steim noch nichts konkretes passiert. Trotzdem fühlt sie sich veranlasst, über ihr Verhältnis zu Onish nachzudenken. Zu Beginn ihrer Reise behandelte sie ihn wie einen ihrer Brüder. Mit der Entdeckung ihrer magischen Fähigkeiten entwickelte sich allmählich eine Lehrer-Schüler-Beziehung. Erst nach ihrem beinahe verhängnisvollen Beinbruch in den Bergen von Sellei begann sie sich Gedanken über ihre gemeinsame Zukunft zu machen. Sie muss inzwischen zugeben, dass sie für Onish verwirrende Gefühle empfindet. Bisher war sie sich sicher, dass diese von Onish nicht erwidert werden. Seine Reaktion auf Steims Aufmerksamkeiten deutet aber in eine andere Richtung. Trotzdem genießt sie die Gelegenheit, Austausch mit anderen Personen zu pflegen. Mit einem Kopfschütteln zieht sie ihre alte Lieblingsjacke enger um die Schultern. Sie will Hama und Daj in den Ställen besuchen und dann zum Hof des Mondbaums hinaufsteigen. Soviel sie weiß hält A'shei im Moment Wache. Vielleicht ist Onish bei ihm. Die beiden Schattenwandler finden immer Gesprächsstoff. Meist hält Kej sich zurück und lässt Onish soviel Freiraum wie möglich. Aber heute sehnt sie sich nach seiner Gesellschaft.
Wie erwartet sitzen Onish und A'shei auf dem Beobachtungsposten bei Silfanu. Kej fragt sich, wie der jetzt kahle Baum im Frühjahr aussieht, wenn er blüht. Silàn besitzt ein Bild des Mondbaums in voller Blüte. Es gehörte ihrer Großmutter und zeigt den alten Mondbaum, bevor er starb. Er war wesentlich größer als der heutige Baum, der von Silàn vor sieben Jahreszyklen gepflanzt wurde. Kej wollte das zunächst nicht glauben und kann sich kaum vorstellen, wie aus einem Samen in so kurzer Zeit ein so beeindruckender Baum wachsen konnte.
Sie wird unvermittelt aus ihren Gedanken gerissen, als Onish aufspringt. Mit ausgestrecktem Arm zeigt er aufgeregt in Richtung des Feuerberges. Kej tritt rasch näher, aber sie kann nicht erkennen, was Onish sieht.
«Da, sie kommen hierher, ich bin mir sicher!»
A'shei verliert keine Zeit. Er springt von der Mauer und befiehlt den beiden, den Beobachtungsposten zu halten, bevor er durch eine schmale hölzerne Tür im Turm der Königin verschwindet. Kej klettert zu Onish auf die Mauer. Nun, da er sich etwas beruhigt hat, erkennt sie was ihn so in Aufregung versetzte.

Die fünf Shahraní kreisen nicht wie üblich um den Gipfels des Feuerberges. Heute fliegen sie stattdessen entlang der verschneiten Flanke des Hrantosh direkt auf Silita-Suan und die Beobachter zu. Unwillkürlich hält Kej den Atem an. Aber es wird noch eine Weile dauern, bis die Drachen die Burg erreichen. Trotzdem ist ihr unwohl beim Gedanken an die bevorstehende Begegnung. Sie kennt inzwischen die Hrankaedí. Wenn die Feuerdrachen auch nur annähernd so furchteinflößend sind wie ihre nächtlichen Verwandten, möchte sie sie lieber nicht allein hier empfangen. Spontan nimmt sie Onishs Hand. Der Schattenwandler drückt sie beruhigend, ohne den Blick von den näherkommenden Drachen zu lösen. Kej schluckt leer. Ihr ist flau im Magen. Erleichtert hört sie, wie die Turmtür sich knirschend öffnet. Silàn und A'shei betreten den Hof.

Die Königin tritt mit raschen Schritten an die Brüstung und stützt sich mit beiden Händen auf, um mit zusammengekniffenen Augen den Shahraní entgegenzusehen. Kej bemerkt zum ersten Mal, dass ihr nachts silbern schimmerndes Haar bei Tageslicht tiefschwarz ist. Verblüfft starrt sie die Königin an, bis sie durch A'shei abgelenkt wird, der mit einer fließenden Bewegung die Sehne auf seinen langen Bogen spannt. Kej und Onish tauschen einen Blick aus. Im Moment bedauern beide, dass sie ihre eigenen Bogen nicht dabei haben. Dann wenden sie sich wieder den sich schnell nähernden Drachen zu.
Inzwischen sind die fünf Shahraní einzeln zu erkennen und gut zu unterscheiden. Ihre Silhouetten zeichnen sich deutlich von den verschneiten Berghängen ab. Die langen Schwingen bewegen sich in gleichmäßigem Rhythmus auf und ab. A'shei legt mit ruhiger Hand einen Pfeil auf die Bogensehne. Silàn schüttelt unmerklich den Kopf. Sie legt ihm beruhigend eine Hand auf den Arm.
«Warte, ich glaube nicht, dass sie uns bedrohen. Sie strahlen nur Neugier aus. Ich möchte versuchen, mit ihnen Kontakt aufzunehmen. Vermutlich folgen sie dem Ruf der Xylin.»
Gespannt beobachtet Kej, wie die Shahraní abbiegen und beginnen, die Burg in enger werdenden Schleifen zu umkreisen. Sie kann nicht umhin, die Eleganz der stattlichen Wesen zu bewundern. Der lange Schwanz mit seinem spatenförmig verbreiterten Ende bildet das Gleichgewicht zum schlangenartigen, beweglichen Hals. Die im Verhältnis zum Körper riesigen Schwingen wirken beinahe transparent. Bewundernd betrachtet Kej das Spiel der Farben im Licht der Sonne. Jeder der Drachen weist eine andere, individuelle Zeichnung und Färbung auf.
Darüber vergisst sie ganz ihre vorherige Angst. Als einer der Drachen zur Landung ansetzt, weicht sie trotzdem erschrocken einige Schritte zurück. Silàn bleibt dagegen ungerührt mit verschränkten Armen an der Brüstung stehen. A'shei und Onish halten rechts und links von ihr die Stellung, allerdings umklammert der ältere der Schattenwandler seinen Bogen, jederzeit bereit, ihn zu benutzen. Kej kann erkennen, dass beide ihre Energiereserven auffüllen. Ob die Königin wohl tagsüber auch auf ihre Magie zugreifen kann? Dies ist natürlich nicht der Moment, solche Fragen zu stellen.
Mit kräftigen Flügelschlägen landet ein orangeroter Shahran elegant auf der Burgmauer, während die vier anderen weiterhin Kreise um die Burg ziehen. Er behält die Flügel halb aufgespannt, bereit, sich beim geringstem Anzeichen einer Bedrohung wieder in die Luft zu schwingen. Seine Flughäute bestehen aus einer dünnen, elastischen Membran. Deutlich sind darin die dunkleren Adern zu erkennen. Der Körper des Drachen ist mit kleinen, eng aneinanderliegenden Schuppen gepanzert. Kej kann sich an dem Wesen nicht sattsehen. Genauso, nur viel größer, stellte sie sich die Drachen aus den Geschichten und Liedern vor, die sie als Kind so liebte. Aber diese Drachen sind noch jung, sie werden bestimmt noch wachsen. Gespannt beobachtet sie, wie sich die Königin dem Shahran vorsichtig nähert und eine Hand ausstreckt, damit er daran schnuppern kann. Er zögert, wirft den Kopf zurück und stößt ein heiseres Zischen aus. Silàn senkt die Stimme zu einem leisen Flüstern.
«Ich glaube, er fürchtet sich. Er spürt das Wesen der Nacht in mir. Trotzdem überwiegt die Neugier. Kann jemand von euch seine Gedankenbilder lesen?»
A'shei und Onish schütteln verneinend den Kopf. Kej tastet unterdessen in der Innentasche ihrer Jacke nach ihrer Flöte. Zögernd setzt sie das Instrument an die Lippen. Kann sie wirklich mit Wesen aus den Legenden kommunizieren? Sie spielt einen tiefen, ruhigen, langgezogenen Ton. Sofort wendet der Shahran ihr den Kopf zu. Leuchtend orange Augen mit schwarzen, schräg liegenden Pupillen blinzeln sie fragend an. Kej holt tief Atem, bevor sie mit geschlossenen Augen eine sanfte Melodie zu spielen beginnt.

Onish | Wattys 2015 GewinnerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt