Onish 2-11 Das Wetter in Lelai

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Das Wetter in Lelai

Fanlaita zieht sich fröstelnd ihren dicken Schal um die Schultern. Seit Tagen friert sie im Palast von Penira fast unablässig. Die dicken Mauern, die im Sommer die Räume kühl halten, lassen sich im Winter trotz aller Anstrengungen kaum erwärmen. Die Königin beobachtet die junge Dienerin, die fürsorglich neues Holz auf das flackernde Feuer im offenen Kamin legt. Talai sieht ihr mit großen Augen zu und zupft schließlich an ihrem Rock. Mit kindlichem Eifer bettelt sie darum, selber ein Stück Holz ins Feuer legen zu dürfen. Mit einem scheuen Blick auf die Königin gibt die Dienerin dem kleinen Mädchen die Erlaubnis. Talais Wangen glühen und sie kämpft tapfer mit dem viel zu großen Holzscheit. Die Dienerin gibt gut acht, dass das Kind dem Feuer nicht zu nahe kommt. Fanlaita nickt der jungen Frau freundlich zu, die nun ihre Arbeit abgeschlossen hat und sich anschickt, das Zimmer zu verlassen.
«Talai, komm her zu mir. Du darfst allein nicht so nahe beim Feuer bleiben. Komm, du kannst den Flammen von hier aus zusehen.»
Etwas unwillig folgt das Mädchen dem Ruf der Mutter, den Mund schmollend verzogen. Es vergisst aber seinen Ärger rasch, als es erkennt, dass sein älterer Bruder wach ist.
«Mirim, erzähl mir noch eine Geschichte!»
Die Königin lächelt still und überlässt ihren Sessel am Bett des Thronfolgers ihrer Tochter. Während sie an ein Fenster tritt, lauscht sie der leisen Stimme ihres Sohnes. Seit es ihm etwas besser geht, erfindet er regelmäßig Geschichten für seine kleine Schwester. Fanlaita ist froh darüber, dass es ihm nun zumindest zeitweise gelingt, seine Krankheit zu vergessen und mit Talai zu lachen. Diese Momente sind selten genug. Mirim ist unverändert schwach und wird im Schlaf von furchtbaren Träumen gequält. Trotzdem hat sich sein Zustand stabilisiert, wenn nicht sogar verbessert. Die Königin ist inzwischen überzeugt, dass Pentims Befürchtungen nicht unbegründet sind. Der Heiler, den ihr Vater zu ihrem Sohn sandte, scheint ihren guten Glauben ausgenutzt und Mirims Qualen verlängert zu haben. Nun, da Hajtash weg ist, scheint es dem Thronfolger allmählich, in winzigen Schritten besser zu gehen. Fanlaita hatte an seinem Bett sehr viel Zeit, über die Zusammenhänge nachzudenken. Langsam kommt sie zu der Überzeugung, dass ein Zauber der Grund für Mirims Krankheit ist. Nur hat sie keine Ahnung, wie ein solcher Zauber gebrochen werden kann.
Müde lehnt die Königin den Kopf gegen den steinernen Fensterrahmen. Die Fensterscheibe ist beschlagen und sie reibt mit dem Handballen ein Guckloch frei. Draußen regnet es seit Tagen. Deshalb wirkt das Licht bereits mitten im Nachmittag düster und in den Häusern unten in der Stadt brennen die ersten goldenen Lichter. Fanlaita fragt sich, ob hinter jenen freundlich erleuchteten Fenstern genauso viel Sorge verborgen liegt wie in ihren eigenen prunkvollen Gemächern. Ob die Menschen unten in der Stadt von der schweren Last wissen, die auf der Königsfamilie liegt? Das Haus Diun ist nach der Sonne benannt. Aber für Fanlaita scheint das anhaltend schlechte Wetter besser zu ihrer momentanen Situation zu passen. Während sie verloren in den Dauerregen hinausstarrt, fällt ihr ein weiterer möglicher Zusammenhang auf. Ist es möglich, dass das schlechte Wetter mit ein Grund dafür ist, dass es Mirim endlich etwas besser geht?
Mit einem Seufzen beschließt die Königin, Pentims Ratschlag zu befolgen. Ihr Gemahl ist der Meinung, sie solle ihren Verdacht mit Katim besprechen, seinem alten Berater. Dieser beschäftigt sich seit Monden mit der Geschichte des Feuerkults. Aber bisher war Fanlaita nicht zu dieser Konfrontation bereit. Insgeheim fürchtet sie den grimmigen alten Mann und scheut sich davor, mit ihm zu sprechen. Sie fröstelt als sich sich vorstellt, ihm alleine gegenüberzustehen, dem Blick seiner stechenden blauen Augen ausgeliefert zu sein. Andererseits, wenn er ihren Verdacht bestätigen und es ihrem kranken Sohn wirklich helfen kann...

~ ~ ~

Onish betrachtet schweigend seine immer noch bewusstlose Freundin, die fürsorglich in alle Decken eingewickelt neben dem Feuer liegt. Draußen vor der Höhle graut bereits der Morgen und er kann ein erschöpftes Gähnen nicht unterdrücken. Aber er will sich nicht hinlegen, bevor Kej nicht wach ist. Talisha betritt lautlos die Höhle und legt ein Kaninchen neben das Feuer. Onish lächelt ihr dankbar zu. Er hat seit dem vorigen Mittag nichts gegessen und die ganze Nacht nicht geschlafen. Kejs gebrochenes Bein ist inzwischen gerichtet und geschient. Sie hatte großes Glück, dass der Bruch nicht komplizierter war. Onish musste dennoch all seine Heilkunst aufbieten, um den Knochen wieder richtig auszurichten. Er war froh über seine Erfahrung mit dem gebrochenen Bein einer Ziege, die er vor Jahren unter Dánans Anleitung heilte, und dem gebrochenen Flügel eines Raben, den er vor Jahren wieder richtete. Dennoch reichte diesmal seine Heilkunst alleine nicht. Er musste seine Schattenmagie zu Hilfe nehmen, um Kejs Bein wieder einzurichten. Deshalb unterhielt er die ganze Nacht ein Feuer in der kleinen Höhle, die Talisha für sie gefunden hatte. Immer wieder löste er sich mit der Wölfin ab, dürre Äste von den verkrüppelten Büschen am Fuß der Felswand abzureißen, um mit den Schattenwürfen der Flammen seine Energiereserven zu nähren und gleichzeitig Kej warm zu halten. Inzwischen ist er sicher, dass er alles für das Bein getan hat, was er konnte. Außerdem versorgte er die Schramme an Kejs Schläfe und überzeugte sich mehrfach davon, dass sie sonst keine Verletzungen aufweist. Im Grunde genommen war er zu Beginn ganz froh, dass sie in ihrer Bewusstlosigkeit nichts von seiner Behandlung mitbekam. Aber inzwischen ängstigt ihn ihr Zustand. Talisha scheint diese Angst zu spüren und legt ihm den Kopf auf ein Knie. Onish krault ihr den dichten weißen Pelz hinter den Ohren.
«Ich mache mir Sorgen um sie. Sie sollte langsam aufwachen.»
‹Ich glaube, deine Magie hat zwar geholfen, ihr Bein und die Kopfverletzung zu richten, aber sie selber auch viel Kraft gekostet.›
«Wie kommst du darauf?»
‹Hast du nicht gespürt, wie sie dich unbewusst mit ihrer eigenen Magie unterstützte? Sie besitzt keine großen Heilkräfte, aber ich konnte deutlich wahrnehmen, wie sie dich mit Energie versorgte.›
«Hmm, das erklärt vielleicht, warum mir dieses kleine Feuer genügte, um genug Schattenmagie für die Heilung zu sammeln. Und vielleicht ist das auch der Grund, warum ich nicht selbst schon zusammengebrochen bin.»
Talisha blinzelt dem Magier nur bestätigend zu und schiebt mit einer Pfote das Kaninchen in seine Reichweite.
«Gut, du hast sicher recht. Ich sollte etwas essen, um wieder zu Kräften zu kommen. Außerdem wird Kej bestimmt hungrig sein, wenn sie aufwacht.»
Während Onish das Kaninchen ausnimmt und zubereitet, schleppt Talisha noch einmal Zweige in die Höhle, dann rollt sie sich an Onishs Seite zusammen und ist kurz darauf eingeschlafen. Während der junge Mann das Fleisch über dem Feuer wendet, betrachtet er seine beiden schlafenden Gefährtinnen. Selbst wenn Talisha recht behält und Kejs Bein gut verheilen wird, kann sie in den nächsten Tagen unmöglich weiterreiten. Ob er sie zurück zu Laons Dorf bringen soll? Vermutlich wäre es dort für sie am bequemsten. Andererseits ist auch Talisha überzeugt davon, dass Kej das Mädchen aus Dánirahs Traum ist. In dem Fall sollte er sich nicht von ihr trennen, bevor er weiß, welche Rolle sie in dieser Geschichte spielt.
Endlich ist das Essen gar und Onish nimmt es vom Feuer. Er fühlt sich bereits etwas besser, nachdem er seine Schattenenergievorräte wieder etwas auffüllen könnte. Talisha hebt den Kopf und blinzelt ihn mit goldenen Augen an, bevor sie sich Kej zuwendet. Diese öffnet endlich mit einem lauten Stöhnen die grünen Augen.

Onish | Wattys 2015 GewinnerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt