Onish 3-13 Über den Fluss

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Über den Fluss

Der Shalen lässt seinen Blick über die sanften Hügel des nördlichen Linar schweifen. Der Wind streicht in einer fließenden Wellenbewegung durch die hohen Gräser und verliert sich in der Ferne. Unten am Hang liegt die Furt durch den Selin. Hier beginnt die große Nordstraße nach Geai. Diese wird sie hoffentlich bald nach Lellini bringen.
Sie sind gut vorangekommen, seit er vor fünf Tagen die Suche nach den beiden Magiern abbrach. Er ärgert sich immer noch über die Leichtigkeit, mit der sie entkommen konnten. Aber nachdem er einen Tag mit der Suche nach der Spur der Flüchtigen verloren hatte, beschloss Hajtash verdrossen, nach Norden weiterzuziehen. Er ist überzeugt, dass sich die beiden zu diesem Zeitpunkt noch in der Gegend versteckt hielten. Aber irgendwie, wohl mit Magie, gelang es ihnen, ihre Spuren erfolgreich zu verbergen.
Hajtash würde einiges dafür geben, diesen Zauberbann zu lernen. Aber seine Magie ist nicht mit derjenigen eines Schattenwandlers vergleichbar. Wahrscheinlich könnte er den Bann nicht erwirken, selbst wenn er ihn genau kennen würde. Das ändert nichts an der ärgerlichen Tatsache, dass er von einem Mitglied der Schattenwandlergilde überlistet wurde, von einem halbwüchsigen Jungen noch dazu. Hajtash verachtet diese Magier und ihre minderwertige Kraftquelle. Sie gewinnen in einem unbekannten Prozess kleine magische Energiemengen aus dem Wechsel von Licht und Schatten. Feuermagier greifen am liebsten direkt auf das heißeste aller Feuer zu, die Sonne. Sie könnten auch aus den Flammen eines gewöhnlichen Feuers Kraft schöpfen. Im Vergleich dazu liefert Sonnenfeuer aber ein Vielfaches an magischer Energie. Deshalb ist es sehr lange her, dass sich Hajtasch mit geringeren Energiequellen abgab. Wer ist schon interessiert, mühsam kleine Mengen von etwas zu gewinnen, was an jedem wolkenfreien Tag in riesigen Mengen kostenlos zur Verfügung steht?
Wie dem auch sei, er hasst es, geschlagen zu werden, noch dazu von jemandem, den er verachtet. Zum wiederholten Mal fragt er sich, was die Begabung der rothaarigen jungen Frau ist, die den Schattenwandler begleitet. Irgendwie war sie an der Flucht beteiligt, zumindest indem sie die Pferde aufscheuchte. Hajtash verdächtigt sie ebenfalls der Magie, allerdings kann er sich nicht vorstellen, welche Energiequelle sie verwendet.
Der Shalen verdrängt diese düsteren Gedanken und bedeutet seiner Gefolgschaft, schneller zu reiten. Er will so rasch wie möglich Geai erreichen. Während er sein Pferd den Hang zum Fluss hinunter lenkt, wandern seine Gedanken ungewollt zu den Ereignissen vor einigen Tagen zurück. Am zweiten Tag nach der Begegnung entdeckten die Fährtenleser früh am Morgen eine Spur, die von zwei Reitern stammte. Sie folgten ihr eine Weile und die Söldner begannen sich farbig auszumalen, wie sie sich an den Magiern rächen wollten, die den Tod ihres Gefährten verschuldeten. Aber bald querten eine zweite und dritte Fährte die erste Spur. Hajtash erkannte rasch die List, die hier angewandt wurde. Die beiden mussten überraschend Hilfe gefunden haben. Nun, vielleicht war das nicht so überraschend, vielleicht gehörten die zwei Magier von Anfang an zu einer Gruppe? Damals im Winter in Sellei hatten die beiden ebenfalls Hilfe. Vielleicht war es Zufall, das er zweimal den gleichen Personen begegnete. Das würde erklären, weshalb sie nach der Verfolgung im Wald wie vom Erdboden verschluckt waren.
Der Shalen beschloss deshalb, dieses Spiel nicht mitzuspielen und seine ursprüngliche Reise nach Norden wieder aufzunehmen. Es kostete ihn allerdings Mühe, die Söldner zu überzeugen, dass dies die sinnvollste Entscheidung war. Aber Hajtash ist inzwischen überzeugt, dass die beiden jungen Magier mit dem Verschwinden der Feuerdrachen in Verbindung stehen und dass sein Weg denjenigen des blonden Schattenwandlers und seiner rothaarigen Begleiterin früher oder später wieder kreuzen wird. Ein drittes Mal wird er sich von den beiden nicht zum Narren halten lassen!

~ ~ ~

Onish und Kej erreichen den Haon kurz vor Mittag. Den Fluss bekommen sie aber vorerst nicht zu sehen. An dieser Stelle windet er sich breit und gemächlich durch die Ebene, beidseitig von ausgedehntem Sumpfland eingefasst. Kej glaubt, in der Ferne den Rauch über den Dächern von Haonjit zu erkennen, das am anderen Ufer liegt. Aber Onish meint, der mutmaßliche Rauch könnte auch eine tiefliegende Wolkenbank sein.
Der Haon ist hier zu tief und zu breit, um ihn in einer Furt zu überqueren. Eine Brücke gibt es auch nicht. Deshalb folgen Onish und Kej der vielbefahrenen Straße bis zur Fähre. Es kommt ihnen seltsam vor, nach so langer Zeit eine belebte Gegend zu durchqueren. Sie besitzen immer noch einige der Münzen, die ihnen der Händler Tòmani im letzten Herbst mitgab. Onish bezahlt damit die Überfahrt. Ihre Mitreisenden, Bauern und Händler aus der Gegend, mustern die beiden nur oberflächlich. Der große Flusshafen und Marktort Haonjit zieht Menschen aus allen Teilen des Landes an. Zwei junge Jäger in mitgenommener Kleidung fallen da nicht besonders auf.
Geduldig warten etwa zwei Dutzend Reisende auf dem Fährsteg auf das Boot, das sich langsam vom anderen Flussufer her nähert. Der Steg besteht aus wettergebleichten Holzbohlen, die von zahlreichen Pfählen getragen werden. Die Konstruktion knarrt bei jedem Schritt und Onish fragt sich, wie lange sie das Gewicht der beiden vollbeladenen Wagen noch aushält, die auf die Fähre warten. Nebst Hama, Daj und den müde wirkenden Zugtieren stehen drei weitere Pferde für die Überfahrt bereit. Es handelt sich um junge Tiere, wohl Zuchtpferde, die zum Verkauf bestimmt sind. Ihr Betreuer, ein Mann in Onishs Alter, hat bereits jetzt alle Hände voll zu tun, sie ruhig zu halten. Onish wirft Kej mit hochgezogenen Augenbrauen einen vielsagenden Blick zu. Sie nickt verstehend und kontrolliert, ob ihre Flöte griffbereit ist.
Heute ist ein schöner Tag, die Frühlingssonne wärmt die Wartenden. Kej zieht ihre vielfach geflickte Jacke aus und stopft sie in ihre Satteltasche. Onish bemerkt die Wärme nicht. Er hat sich in seinen magischen Schutzbann gehüllt, der die Emotionen der anderen Reisenden von ihm fernhält, und beobachtet die näherkommende Fähre. Auf dem großen, flachen Kahn finden mehrere Wagen Platz. An einem kurzen, stämmigem Mast kann ein Segel gesetzt werden. Heute treibt die Mannschaft das Boot aber mit langen Stangen an, die in den Grund des Flusses gerammt werden, bis die Fähre ihren Steg erreicht.
Die Besatzung bedient geschickt die Leinen und beginnt mit dem Entladen des Boots, sobald die wenigen Passagiere an Land gegangen sind. Die Fracht besteht vorwiegend aus Fässern. Onish vermutet, dass sie Getränke für das Gasthaus enthalten, das wenige Schritte von der Anlegestelle entfernt liegt. Sobald das letzte Fass an Land gerollt ist, weist der Schiffer die beiden Wagenlenker an, ihre Gespanne auf das Schiff zu fahren. Die stämmigen Zugtiere sind diese Prozedur gewohnt und zögern nur unmerklich, das schwankende Boot zu betreten. Schwieriger gestaltet sich das Verladen der Zuchtpferde. Schon das erste weigert sich, die Planke zu betreten, die vom festen Steg auf die Fähre führt. Bald schnauben alle drei Tiere nervös und ihr Besitzer kann kaum mehr ihre Zügel halten.
Kej setzt ihre Flöte an die Lippen und beginnt leise eine ruhige Melodie zu spielen. Der Schiffer, der wegen der Unruhe der Tiere ohnehin verärgert ist, will gerade aufbrausen, als er bemerkt, welche Wirkung Kejs Musik hat. Die drei jungen Pferde beruhigen sich rasch und folgen ihrem Betreuer an Bord, ohne weiter Schwierigkeiten zu bereiten. Der Schiffer nickt Kej dankbar zu. Sie und Onish sind als nächstes an der Reihe. Hama und Daj bleiben so ruhig, als hätten sie bereits viele Bootsfahrten hinter sich.
Bald sind die übrigen Passagiere eingestiegen und die Fähre legt ab. Onish lehnt sich neben Kej gegen die Reling, und streichelt Dajs Kopf. Nun, da Kej nicht mehr spielt, werden die Zuchtpferde wieder unruhig. Ihr Begleiter füttert sie mit alten Äpfeln und spricht beruhigend auf sie ein. Endlich gewöhnen sie sich an die Schiffsbewegungen. Der junge Mann spricht Kej neugierig an.
«Du bist gut mit Pferden. Wie hast du das gemacht?»
«Tiere mögen es, wenn ich auf meiner Flöte spiele. Ich glaube, deine Pferde haben darüber ihre Angst vergessen.»
Onish ist froh, dass Kej ihr magisches Talent nicht erwähnt. Der Pferdezüchter mustert sie nachdenklich und setzt ein gewinnendes Lächeln auf.
«Hmm, das ist eine ziemlich nützliche Begabung. Hast du schon darüber nachgedacht, mit Pferden zu arbeiten? Mein Vater besitzt ein großes Gestüt im nördlichen Linar. Jemanden wie dich könnten wir gebrauchen.»
Onish kann unschwer erkennen, dass Kej weder an dem jungen Fremden noch an seinem Angebot interessiert ist. Trotzdem lächelt sie freundlich zurück.
«Tut mir leid, mein Freund und ich haben eine wichtige Aufgabe zu erfüllen. Ich bin sicher, dass du und dein Vater viel besser mit Pferden umgehen könnt als ich.»
Der Fremde lässt sich nicht so leicht abweisen. Onish verfolgt mit halbem Ohr die einseitige Unterhaltung, die sich zwischen ihm und Kej entwickelt. Der Pferdezüchter setzt alle Mittel ein, um die Nirahn zu beeindrucken. Aber sie geht nicht auf seine plumpen Annäherungen ein. Trotzdem erzählt der junge Mann unverdrossen weiter Geschichten über das Gestüt seines Vaters. Onish beobachtet unterdessen den Fluss. Ob es hier Krokodile gibt, wie am Unterlauf des Haon? Beim Gedanken an Rihàns Angst vor den Reptilien muss er unwillkürlich lächeln. Kej bemerkt es und wendet sich abrupt von ihrem neuen Verehrer ab.
«Woran denkst du, Onish?»
«An Rihàn und die Krokodile. Erinnerst du dich?»
Beim Gedanken an Onishs erste Schwimmversuche lächelt auch Kej. Enttäuscht wendet sich der Pferdezüchter ab. Kej bemerkt es nicht einmal. Fasziniert beobachten die beiden Reisenden zusammen den lebhaften Betrieb am näherrückenden Ufer. Vom Wasser aus wirkt der große Handelshafen Haonjit noch beeindruckender als von Land. Der hölzerne Kai erstreckt sich entlang des Flussufers soweit das Auge reicht. Zahlreiche Schiffe verschiedenster Bauart und Größe liegen längsseits, zum Teil in mehreren Reihen. Einige davon werden gerade entladen, andere beladen. Zwischen den großen Frachtschiffen bewegen sich kleine Ruder- und Segelboote. Kej erkennt einige der flachen Boote der Flussfischer, die mit ihrem Fang zurückkommen. Onish sucht die Reihe der Frachtschiffe nach Delanis Schiff ab. Eigentlich müsst er es an der flachen, blau bemalten Kajüte und dem zweiteiligen Mast, der das große Gaffelsegel trägt und bei Bedarf aufs Deck gelegt werden kann, erkennen. Aber so sehr er sich anstrengt, seine Suche bleibt erfolglos.
Onish hofft inständig, dass Delani sich nicht gerade am Unterlauf des Haon befindet, oder sogar in Lejit, das an der Mündung liegt. Ob der Flussschiffer seine Botschaft wohl erhalten hat? Der Schattenwandler macht sich zudem Sorgen um Talisha, von der sie schon lange nichts mehr hörten. Er seufzt leise. Kej nickt ihm verständnisvoll zu. Sie kann sich vorstellen, was ihren Freund bedrückt.

Onish | Wattys 2015 GewinnerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt