Onish 1-12 Kejs Flöte

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Kejs Flöte

Liha zieht seine Kapuze tiefer ins Gesicht und bleibt unauffällig hinter einer Gruppe dunkel gekleideter Menschen stehen. Er weiß, dass er sich hier besser nicht zu erkennen gibt. Eigentlich sollte er in seiner Position ohnehin keine verdeckten Nachforschungen betreiben. Falls er dabei entdeckt wird, kann das bittere Konsequenzen für ihn selbst und den König haben. Aber diese Mission ist zu heikel, als dass er sie einem Untergebenen überlassen wollte.
Liha erhielt erste vage Hinweise auf diese geheimnisvolle Versammlung vorgestern Abend von einer seiner besten Informantinnen. Die Frau betreibt ein Wirtshaus in der Unterstadt Peniras, das bei den Mitgliedern der königlichen Garde genauso beliebt ist wie bei lokalen Handwerkern und Händlern. Sie bekommt manches zu hören, was für den Heerführer des Königs äußerst interessant ist. Und wenn ihr alter Freund Liha ihr ab und zu einen Besuch abstattet, findet sie immer Zeit, in einem privaten Zimmer ein Glas Wein mit ihm zu trinken und über alte Zeiten zu plaudern. Niemand weiß von dieser seltsamen Freundschaft zwischen der älteren Wirtin und dem jungen Berater des Königs. Sowohl Liha wie Naiin ist das recht so. Die Geschichte, wie der mutterlose minderjährige Sohn eines königlichen Gardisten einen dummen Fehler beinahe mit dem Leben bezahlte, geht nur ihn und die Frau etwas an, die ihn damals auf den richtigen Pfad zurücklenkte. Dass das damalige Gewerbe seiner Retterin wenig ehrenhaft war, ist Liha egal. Seine Schuld bei Naiin ist längst beglichen, seit dem Tag, als er ihr mit dem Preisgeld seines ersten Turniersiegs die Eröffnung des Gasthauses ermöglichte. Trotzdem überdauerte die ungewöhnliche Freundschaft zwischen dem jungen Krieger und der älteren Wirtin alle Jahre und Veränderungen unbeschadet. Nur selten kehrt Pentims Berater von einem seiner Besuche im Hinterzimmer von Naiins Haus ohne interessante Geschichten und Gerüchte aus der Gaststube in den Palast zurück.
Liha verschränkt die Arme und lehnt sich scheinbar gelangweilt gegen eine Mauer, um mit den zahlreichen Menschen um ihn herum auf den Sonnenaufgang zu warten. Er lächelt beim Gedanken daran, wie Naiin ihn auf die Spur dieser Versammlung brachte. Sie war sich offensichtlich nicht sicher, ob das Ganze überhaupt sein Interesse wert war. Liha musste ihr die Details regelrecht aus der Nase ziehen. Aber wie immer, wenn Naiin über eine solche Geschichte stolperte, lohnte es sich, sie anzuhören. Sie sah und hörte in ihrem Leben schon so vieles, dass ihr ungewöhnliche Dinge auffallen, auch wenn sie noch so unscheinbar daherkommen.
Am Abend hatte in der Gaststube ein betrunkener Schmied aus der Gegend geprahlt, er werde diesem Priester zeigen, was ein richtiger Mann zu seinen falschen Versprechungen zu sagen habe und er ließe nicht zu, dass seine Frau diesem Scharlatan aufliege. Der Schmied war daraufhin von einem Kollegen rasch und grob mit einem Faustschlag zum Schweigen gebracht worden. Der Mann, der zugeschlagen hatte, und der Lehrling des Schmieds fassten diesen danach unsanft unter den Schultern und verließen das Lokal. Naiin fielen die unsicheren Blicke auf, welche die Beteiligten den anderen Gästen zuwarfen. Aber überraschenderweise schien sich niemand weiter um den Vorfall zu kümmern, und die Trinkkumpane des Schmieds, die ihre zuvor gute Laune eingebüßt hatten, verschwanden nach dem Vorkommnis ungewohnt früh und rasch nach Hause. Eines der Mädchen hörte später beim Servieren der Getränke an einem anderen Tisch ein Gespräch, das es in der Küche der Belegschaft weitergab. Ein Gardist wies seine Kollegen flüsternd darauf hin, dass es nicht ratsam sei, sich gegen den Sonnenmagier, den Shalen, zu wenden, nicht einmal in betrunkenem Zustand. Er behauptete, der Mann sehe und höre alles und werde alle Ungläubigen früher oder später zur Rechenschaft ziehen.
Mehr Informationen brauchte Liha nicht. Er hatte so etwas befürchtet, seit Pentim das Verbot des Feuerkults aufheben ließ. Der Berater des Königs kehrte nach seinem Gespräch mit Naiin nachdenklich in den Palast zurück. Er verbrachte die darauffolgende Nacht und den nächsten Tag damit, Berichte anderer Informanten zu studieren, Indizien zu sammeln und Mosaiksteinchen zusammenzufügen. Schließlich fand er einen fragwürdigen Hinweis auf ein Treffen, das bei Sonnenaufgang in einem Park der Oberstadt stattfinden sollte. Liha, der Stratege des Sonnenkönigs, erkannte einen möglichen Zusammenhang.
Nun steht er hier, in dem kaum benutzten Park im Viertel der reichen Kaufleute Peniras, und wartet mit Dutzenden vermummten Gestalten auf ein Ereignis, vor dem er eine unbestimmte Angst empfindet. Sein Blick wandert hinüber zum Himmel über den Dächern im Osten. Es wird heller, wenn seine Vermutungen stimmen, müsste es bald losgehen.
Plötzlich ist ein mehrstimmiger Gesang zu vernehmen. Die Melodie wirkt fremd und schlägt die Zuhörer sichtlich in ihren Bann. Alle Gesichter drehen sich fünf weiß gekleideten Gestalten zu, die aus dem Schatten zwischen den Bäumen im hinteren Teil der Parkanlage hervortreten. Liha beobachtet verstohlen die Menschen um sich herum. Die meisten sind unauffällig gekleidet und tragen sogar den Kopf verdeckt, entweder mit einer Kapuze wie er selbst oder mit einem tief ins Gesicht gezogenen Kopftuch oder Hut. Aber er erkennt Männer und Frauen aller Altersklassen. Manche Eltern brachten kleine Kinder und sogar Säuglinge mit. Alles in allem sind wohl weit über zwölf Dutzend Menschen versammelt.
Nun erreicht die Gruppe der Sänger die Versammlung und bleibt inmitten der Menschen stehen. Alle fünf tragen bodenlange, einfache weiße Gewänder aus einem fein gewebten, schillernden Stoff. Vier sind erstaunlich jung, kaum erst erwachsen. Dies sind die Sänger, zwei Frauen und zwei Männer. Sie nehmen unbeirrt und mit präzisen Bewegungen in einem Quadrat Aufstellung, ohne ihren Gesang einen Augenblick zu unterbrechen. Liha fällt erst jetzt auf, dass er die Sprache nicht versteht, in der gesungen wird. Aber das spielt keine Rolle, die Melodie allein fesselt die Zuhörer, die atemlos der fremden Musik lauschen. In der Mitte zwischen den Sängern bleibt die fünfte Person stehen. Es handelt sich um einen älteren Mann, dessen langes graues Haar offen über seine Schultern fällt. Er hält sich aufrecht und der lange hölzerne Stab in seiner rechten Hand ist weniger eine Stütze als ein Zeichen seiner Würde. Obwohl seine Kleidung sich kaum von derjenigen der Sänger unterscheidet, strahlt er unverkennbar Autorität aus. Er lässt seine stahlblauen Augen langsam über die versammelte Menge schweifen. Liha wird das Gefühl nicht los, den Mann schon gesehen zu haben. Aber er kann sich nicht erinnern, wo das war.
Langsam lassen die vier Sänger ihre Melodie leiser werden und ganz verklingen. Im Park herrscht atemlose Stille, trotz der Morgenstunde ist nicht einmal ein Vogel zu hören. Nach einer schier unerträglichen Zeit beginnt der Mann mit dem Stab zu sprechen.
«Sonnenkinder. Ihr seid gekommen, unserer Herrin die Ehre zu erweisen. Seid gegrüßt, Söhne und Töchter Peniras. Seht her, die Sonne kommt, um uns diesen neuen Tag zu schenken. Kniet nieder, erweist ihr den Respekt, den sie verdient, auf dass sie uns die Ehre ihrer ewigen Flamme schenkt.»
Der Mann streckt seinen Stab in Richtung Osten aus. Ohne zu zögern lassen sich die Zuschauer auf die Knie nieder, das Gesicht in die Richtung gewendet, die ihnen der Stab weist. Dort erhebt sich langsam, majestätisch und blutrot die Sonnenscheibe über die Dächer der Stadt. Die vier Sänger nehmen ihre Melodie wieder auf, lassen sie mit dem Steigen der Sonne anschwellen, bis diese sich ganz vom Horizont gelöst hat und ihre Farbe von rot zu orange und gleißend hell wechselt. In diesem Moment brechen die Sänger ihr Lied abrupt ab. In der plötzlichen Stille ist das Zischen unüberhörbar, mit dem aus der Spitze des Stabes des Magiers eine lodernde Flamme schlägt.
Liha hält unwillkürlich die Luft an. Dies ist es, wovon Katim ihnen vor wenigen Tagen berichtete, was er aus den alten Schriften rekonstruierte und wovor er sie eindringlich warnte. Dies ist das Morgenritual des Feuerkultes, aus dem der Shalen jeden Tag neu sein Recht und seine Macht ableitet. Liha hat genug gesehen. Aber es bleibt ihm nichts anderes übrig, als mit dem Rest der Menge zu verharren, während sich der Magier mit stolz erhobenem Haupt und Flammenstab abwendet, um inmitten seiner Sänger den Park auf dem gleichen Weg zu verlassen, auf dem er gekommen ist.
Nur langsam lösen sich die Zuschauer aus ihrer ehrfürchtigen Starre und erheben sich etwas verlegen. Schweigend und noch gefangen im Erlebten treten sie den Heimweg an. Liha verlässt den Park mit gesenktem Kopf. Nun erinnert sich der oberste Heerführer von Kelèn, wo er den Shalen schon einmal sah. Das war im Palast, auf dem Weg zu Pentims Gemächern, als er flüchtig das Gesicht des Heilers erkannte, der sich um Pentims kranken Sohn Mirim kümmerte.

Onish | Wattys 2015 GewinnerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt