Onish 3-10 Auf der Flucht

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Auf der Flucht

Onish drückt sich tief auf den Hals seines Pferdes. Vor gar nicht langer Zeit hatte er noch großen Respekt vor einem so ungestümen Ritt. Nun versucht er, im Galopp gleichzeitig seine Schattenenergie zu erneuern und seinen Schutzbann aufrechtzuerhalten. Obwohl Kejs schrilles Flötenspiel die Pferde des Shalen und seiner Begleiter zum Scheuen brachte, werden sie inzwischen bestimmt verfolgt. Onish konnte beobachten, dass die meisten der Männer und Frauen abgeworfen wurden. Einige mögen sich dabei verletzt haben. Aber zumindest die Krieger werden sich rasch erholen und die Verfolgung aufnehmen. Und drei von ihnen besitzen starke Bogen, mit denen sie die Flüchtlinge auch aus einiger Distanz erreichen können.
Onish verzichtet darauf, zurückzublicken. Er schickt alle verfügbare Energie in den Schutzbann, der ihn, Kej und die Pferde umgibt. Aber das wird nicht reichen, sie brauchen unbedingt ein Versteck. Kej lenkt ihre Hama etwas weiter nach links, den Hügel hinauf. Onish begreift, dass sie hofft, den Waldsaum zu erreichen. Dieser ist aber noch ein gutes Stück entfernt. Nun wirft der Schattenwandler doch einen kurzen Blick über die Schulter. Zu seiner Überraschung liegen die Verfolger weit zurück. Nur drei Reiter folgen ihnen, die übrigen kämpfen entweder noch mit ihren Pferden oder sitzen am Boden, wohl verletzt. Onish konzentriert sich wieder auf den Weg. Der kurze Moment der Ablenkung erlaubte Kei, eine Pferdelänge Vorsprung zu gewinnen. Er treibt Daj energisch an. Wenn sie sich zu weit voneinander entfernen wird sein Schutzbann ausgedehnt und verliert die Wirkung. Daj gelingt es mit großer Anstrengung, mit Hama wieder gleichzuziehen. Der Hengst ist kräftiger als die Stute, aber Kej ist unbestritten die bessere Reiterin. Während dieses Wettlaufs rückt der Wald näher. Das Gelände wird aber steiler und felsiger, die Pferde verlangsamen automatisch ihren Schritt. Kej setzt einhändig die Flöte an die Lippen und bläst einige seltsam schwankende Töne. Daj und Hama verstehen. Beide greifen noch einmal weit aus und dringen schließlich ohne den Schritt merklich zu verlangsamen durch das Unterholz des Waldrands. Im Wald ist es dunkel und ruhig. Lange, schmale Blätter von großen Bäumen mit dicht ineinander verflochtenen Kronen bedecken den Boden und dämpfen den Hufschlag der Pferde. Es gibt nur wenig Unterholz. Die Stille nach dem angestrengten Ritt wirkt unheimlich. Kej lenkt Hama in einem steilen Winkel weiter nach links. Daj folgt wie gewohnt der Führung der Stute. Einen Moment lang sind sie hier im Wald vor den Blicken ihrer Verfolger sicher. Wenn es ihnen gelingt, ein gutes Versteck zu finden, können sie diese vielleicht sogar abschütteln. Onish hält trotzdem den Schutzbann aufrecht. Er ist dem Schattenwandler Jakrim unendlich dankbar, der ihm diese Methode zeigte. Während den letzten Monden erhielt er viel Übung mit dieser speziellen Art Schattenmagie. Ob sie allerdings genügt, ihn und Kej vor Hajtashs Sonnenmagie zu schützen, bleibt abzuwarten.
Onish spürt die Anstrengung und beginnende Ermüdung seines gescheckten Hengstes. Dajs Fell ist schweißnass und sein Atem geht rasch. Die Pferde werden diesen Rhythmus nicht mehr lange durchhalten. Der Schattenwandler versucht, das stetig ansteigende Terrain voraus zu erkennen. Zwischen hohen Bäumen mit streifig abblätternder Rinde liegen massive Felsbrocken, die teilweise von dunklem Moos überwachsen sind. Sie müssen von einem Felsband stammen, das sich weiter oben über den Hang zieht. Er hofft, dass es kein unüberwindliches Hindernis darstellt. Wenn nur Talisha hier wäre! Die Wölfin würde mit ihrem untrüglichen Instinkt sicher einen Ausweg aus dieser Situation finden.

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Hajtash kann einige deftige Fluchwörter nur mit großer Willensanstrengung unterdrücken. Aber es geht nicht an, dass der große Feuermeister vor seinen treuen Anhängern und angeheuertem Söldnern die Beherrschung verliert. Er rappelt sich mühsam vom Boden auf und will sich den Staub von seinem unsanften Sturz von den Kleidern klopfen. Erst dabei bemerkt er den stechenden Schmerz in seinem linken Handgelenk. Er muss es sich beim Aufprall gebrochen haben. Nun flucht Hajtash doch vor sich hin, allerdings so leise, dass niemand es hören kann. Er kann immer noch nicht glauben, dass er sich durch einen so einfachen Trick übertölpeln ließ. Mit vor Ärger und Schmerz zusammengekniffenem Mund blickt er sich um. Befriedigt stellt er fest, dass inzwischen drei der Söldner die Beherrschung über ihre Tiere zurückerlangt und die Verfolgung aufgenommen haben. Fünf weitere seiner Begleiter liegen oder sitzen aber noch am Boden, darunter einer der Söldner. Der Mann hat sich beim Sturz wohl das Genick gebrochen. Sein Hals ist in einem unnatürlichen Winkel verrenkt und seine weit aufgerissenen Augen starren blicklos ins Leere. Drei der Feuerkultanhänger halten sich mit schmerzverzerrtem Gesicht verschiedene Körperteile. Einer Mann versucht gemeinsam mit einer Kriegerin, die Pferde zu beruhigen. Drei der Tiere, darunter der Hengst des Shalen, stehen lammfromm da und knabbern friedlich am jungen Gras. Die Kriegerin ist dabei, ein weiteres Pferd zu beruhigen, während Hajtashs Gefolgsmann ungeschickt an den Zügeln einer sich aufbäumenden schwarzen Stute hängt. Dem Tier steht Schaum vor dem Mund und es versucht mit weit aufgerissenen Augen, sich loszureißen. Die übrigen Pferde sind in ihrer Panik geflüchtet und nur noch aus der Ferne zu erkennen.
Eine junge Frau in einem langen weißen Gewand, das sie über einer Reithose trägt, ist unverletzt geblieben und stolpert nun schwankend auf Hajtash zu. Die Novizin spricht ihn mit fiebrig glänzenden Augen an.
«Wie geht es euch, Meister? Seid ihr verletzt?»
Hajtash betrachtet seine nutzlose Hand und erwidert mürrisch, es sei nicht der Rede wert. Dann lässt er seine angesammelte Sonnenmagie in die Heilung seiner gebrochenen Knochen fließen. Der Prozess ist schmerzhaft und kostet fast seine ganze Magiereserve. Aber ohne den Gebrauch seiner Hand fühlt er sich hilflos. Zufrieden ballt er die geheilte Linke zur Faust und streckt die Finger wieder. Das ist soweit in Ordnung. Leider steht es nicht in seiner Macht, andere mit Feuermagie zu heilen. Er mustert kritisch die junge Frau, die wohl unter Schock steht. Dann wendet er sich an die Kriegerin, die soeben das Pferd beruhigt hat. Sie scheint im Moment das einzige kompetente Mitglied seiner Reisegruppe zu sein. Er versucht, sich an ihren Namen zu erinnern und bedauert, dass er sich nie wirklich die Mühe machte, die Namen der Söldner lernen. Seine Stimme ist schroff.
«Du! Sieh zu, dass ihr die Pferde wieder einfangt und dass die Verwundeten versorgt werden. Richtet ein Lager ein. Ich werde deinen Kollegen hinterherreiten. Wir dürfen die Magier nicht entkommen lassen.»
Die Frau nickt und nähert sich vorsichtig dem Mann, der immer noch mit der Stute kämpft. Während Hajtasch sich in den Sattel seines Pferdes schwingt, stellt er mit Genugtuung fest, dass der Wind endlich die Wolken vertreibt. Goldene Sonnenstrahlen fallen durch die dünner werdende Wolkendecke. Gleich kann er seine magischen Reserven wieder auffüllen.

Onish | Wattys 2015 GewinnerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt