Onish 2-19 Die Nacht der Hrankaedí

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Die Nacht der Hrankaedí

Kej ist so müde, dass sie sich kaum mehr im Sattel halten kann. Sie bemerkt erst, dass die Kolonne der Krieger angehalten hat, als ihr Pferd schnaubend stehen bleibt. Blinzelnd versucht sie in der Dunkelheit zu erkennen, wo sie sich befinden. Die Geräusche verraten ihr, dass die Krieger dabei sind, ihre Pferde abzusatteln und das Lager vorzubereiten. Bald flackert die erste kleine Flamme eines Lagerfeuers auf. Erst Lihas leise Stimme an ihrer Seite lässt sie richtig wach werden.
«Das ist der Platz, den das Diuneld beschrieben hat. Hier können wir einige Stunden rasten, bis es hell genug ist, dass es wieder die Führung übernehmen kann. Die Nacht ist bereits zur Hälfte vorbei. Komm, ich helfe dir aus dem Sattel.»
Kej stützt sich dankbar auf Lihas Arm, für einmal zu müde um stolz beweisen zu wollen, dass sie auf sich selbst aufpassen kann. Besorgt fragt der Kommandant nach dem Zustand ihres Beins.
«Es geht schon. Inzwischen kann ich bereits wieder darauf stehen. Onish ist wirklich ein guter Heiler. Aber ich muss zugeben, ich bin in meinem Leben noch nie so lange ununterbrochen geritten.»
Lihas Stimme verrät ein Lächeln, das Kej in der Dunkelheit nicht sehen kann.
«Du hältst seit zwei Tagen mit der Elite der Garde von Kelèn mit und das, ohne dass ich ein Wort der Klage von dir gehört hätte. Davor waren wir bereits mehrere Tage in den Bergen unterwegs, du mit einem gebrochenen Bein. Ich glaube nicht, dass dir das viele nachmachen würden, Kej aus Nirah.»
«Danke, Liha. Aber ich habe keine Wahl, oder? Wenn wir den Shalen überlisten wollen, müssen wir vor allem schnell sein.»
«Ja, Schnelligkeit und Glück, das ist es, was wir jetzt brauchen. Immerhin hat uns das Diuneld bestätigt, dass er tatsächlich unserer Spur folgt.»
Kej nickt und nimmt ihrem Pferd mit klammen Fingern den Sattel ab während sich Liha seinem eigenen Hengst zuwendet. Sie will Hama unbedingt trocken reiben, bevor sie sich für einige Stunden hinlegt. Hier im Flusstal gibt es immerhin noch etwas Gras, so dass die Pferde jetzt, wo der meiste Schnee wieder geschmolzen ist, wenigstens Futter finden.
Kej empfindet Schadenfreude, wenn sie daran denkt, dass der Shalen auf den Trick mit der falschen Fährte hereingefallen ist. Das Diuneld verließ kurz nach dem Sonnenhöchststand die Krieger, um den Feuermagier und seine Begleiter zu suchen. Bereits nach kurzer Zeit kam es mit der Meldung zurück, dass sie wie erhofft verfolgt wurden. Kej hat inzwischen Übung darin, mit Hilfe ihrer Flöte die Bilder des Funkenwesens zu entschlüsseln. Es überrascht sie aber immer noch, wieviel Vertrauen und Respekt Liha und seine Männer ihr entgegenbringen.
Sie tätschelt Hama liebevoll den Hals, bevor sie die Stute ihrer Futtersuche überlässt und sich dem Feuer zuwendet. Beinahe stolpert sie über die fünf Schleppschlitten, die die Krieger bei den Pferden zusammengestellt haben. Sie sind sehr einfach gebaut, bestehen eigentlich nur aus zwei langen Stangen, über die mit einigen Lederriemen zwei kürzere Querhölzer gebunden sind. Darauf liegen die falschen Dracheneier, große runde Flussgerölle aus dem Selin. Die langen Schleppstangen werden beidseitig am Brustgurt eines Packpferds befestigt, das diesen improvisierten Schlitten dann hinter sich herzieht. Kej hat etwas Mitleid mit den Pferden, die seit zwei Tagen diese unnütze Last mitschleppen müssen. Aber das gehört zum Täuschungsmanöver. Sie setzt sich zu Liha ans Feuer und äußert zögernd eine Befürchtung, die sie nicht loslässt.
«Ich hoffe, dass der Shalen auch eine Rast einlegt und uns nicht mitten in der Nacht einholt.»
«Wenn das Diuneld recht hat, ist er noch mehr als einen halben Tagesritt hinter uns. Obwohl er seine Wagen nun zurückgelassen hat, kann er uns nicht vor dem Morgengrauen erreichen.»
«Ich weiß. Aber er ist ein Magier. Vielleicht kann er die Pferde schneller antreiben, so wie Onish die Heilung meines Beins beschleunigte.»
«Nun, ich bin ein alter Krieger und verstehe nicht viel von Magie. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass er für seine Magie das Licht der Sonne oder zumindest eines Feuers braucht. Wenn er nachts reitet, steht ihm beides nicht zur Verfügung.»
Kej nickt und nimmt von einem der Krieger dankend eine Tasse Suppe und ein Stück Trockenbrot entgegen. Sie wärmt die Finger an der Tasse und tunkt dann das harte Brot in die heiße Brühe. Das schmeckt gut, nach einem langen Tag im Sattel. Sie will gerade das Wort wieder an Liha richten, als ein schwarzer Schatten wie ein mächtiger Flügel einen kurzen Moment lang den abnehmenden Mond verdunkelt.
Gebannt verfolgt Kej den Schatten, der sich nur ganz schwach vom klaren Sternenhimmel abhebt. Automatisch tastet sie nach ihrem Bogen, der hinter ihr bei ihrem Sattel liegt. Sofort folgen Liha und einige der Krieger ihrem Blick. Der Kommandant hat sein Schwert halb gezogen und seine Stimme zu einem Flüstern gesenkt.
«Was ist, was hast du gesehen?»
«Einen Schatten vor dem Mond. Vielleicht habe ich mich getäuscht...»
Aufmerksam lässt Kej ihre Augen über den Himmel wandern. Plötzlich erkennt sie den Schatten wieder, der in einem großen Bogen zurückkommt und nun ganz nahe über das Lager gleitet. Das ängstliche Wiehern eines Pferdes lässt die Krieger verteidigungsbereit aufspringen. Aber es zeigt sich kein Feind. Kej steht vorsichtig auf und blickt sich angestrengt um. Sie ist sich sicher, ein Schattenwesen gesehen zu haben. Sie lässt ihren nutzlosen Bogen fallen und holt stattdessen ihre Flöte aus der Innentasche ihrer Jacke. Seit einigen Tagen bewahrt sie das kostbare Instrument immer in Griffnähe auf. Langsam und leise beginnt sie, eine Melodie zu spielen. Die Krieger blicken sie verwundert an. Aber Liha bedeutet ihnen, sich wieder zu setzen. Erst als im Lager wieder Ruhe einkehrt, empfängt Kej das Gedankenbild eines Drachenschattens.
Die junge Magierin lässt vor Schreck beinahe ihre Flöte fallen, so klar sind die Gedanken der Hrankae. Nun erst erkennt sie das Wesen, das sich mit lautlos schlagenden Flügeln auf einem umgestürzten Baumstamm etwas vom Feuer entfernt niederlässt. Der Schatten ist deutlich größer und fester als jener des Kae, mit dem sie kommunizierte. Als das Wesen zu sprechen beginnt, unterbricht Kej verblüfft ihr Flötenspiel.
«Ich bin Luok aus Eshte. Ich grüße die Stimme von Nirah und den Freund des Sternenwanderers. Ranoz, der Älteste der Hrankaedí schickt mich. Er bringt den letzten Schatz der Shahraní noch in dieser Nacht in Sicherheit.»
Kej steckt ihre Flöte weg und wendet sich an die schattenhafte Hrankae. Sie ist selber überrascht, wie fest ihre Stimme klingt.
«Ich freue mich, dich kennenzulernen, Luok. Ich bin Kej aus Nirah. Danke für deine Nachricht. Bedeutet das, dass wir unsere Spur verwischen und den Shalen sich selber überlassen können?»
«Ja, die Ahranan und die Hrankaedí bedanken sich für eure Unterstützung in dieser Sache. Ich werde nun den Schattenwandler aus Atara suchen, um ihm die gleiche Nachricht zu überbringen.»
Bevor Luok sich in die Luft schwingen kann, streckt Liha bittend eine Hand aus.
«Warte, Luok. Ich bin Liha aus Penira. Ich grüße dich und lasse Ranoz, Noak, A'shei und die Ahranan grüßen. Wird Silàn Pentim im Kampf gegen den Shalen unterstützen?»
«Die Ahranan setzte alles daran, die Eier der Shahraní nicht in die Hände des Shalens fallen zu lassen. Sie besitzt nicht die Macht, sich einem Feuermagier zu stellen, aber sie wird ihre Hilfe nicht verweigern. Silàn bittet Onish und die Stimme von Nirah, zum Rat nach Silita-Suan zu kommen. Sie wird die Hilfe von Liha nicht vergessen. Er mag dies dem Sonnenkönig sagen.»
«Danke, Luok. Ich werde so rasch wie möglich in die Hauptstadt zurückkehren. A'shei weiß, wo er mich findet.»
Die Hrankae nickt dem Kommandanten freundlich zu. Die Bewegung geht aber in dem Schatten, der sie umgibt, fast verloren. Dann wendet sie sich noch einmal an Kej.
«Deine Magie ist seltsam und stark, Kej-mit-der-Stimme. Die Wesen der Nacht warten darauf, mehr von dir zu hören.»
Damit schwingt sich Luok wieder in die Luft und ist mit wenigen kräftigen Schlägen ihrer Schattenflügel wieder verschwunden.

Onish | Wattys 2015 GewinnerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt