Onish 2-7 Legenden

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Legenden

Onish und Kej ziehen eilig weiter nach Süden. Seit sie wissen, dass Talisha sie sucht, bemühen sie sich, so schnell wie möglich voranzukommen. Das ist im offenen Grasland von Linar einfach. Das hohe Gras reicht den Pferden zwar manchmal fast bis zum Bauch. Die langen Halme tragen feine Rispen, sind aber bereits welk und behindern das Vorankommen der Reisenden kaum. Trotz der späten Jahreszeit finden die Tiere noch genügend Futter, Wasser ist reichlich vorhanden und die Besiedlung des Landes ist dünn. Die Nächte werden bereits empfindlich kalt, besonders wenn der Himmel klar bleibt. Sie sammeln deshalb inzwischen die Pferdeäpfel auf, um in dieser oft baumlosen Gegend abends genügend Brennstoff für ein Lagerfeuer zu haben.
Sie sind bereits einige Tage im Grasland unterwegs, als sie einem weiteren Kae begegnen.
Heute haben die beiden Reisenden Glück, sie finden einen Rastplatz an einem Bach in einem kleinen Auenwald. Tagsüber regnete es fast ununterbrochen, so dass sie völlig nass und durchfroren sind. Erst bei Sonnenuntergang ließ der Regen nach und inzwischen hat er zum Glück ganz aufgehört. Das meiste Holz in dem kleinen Wald ist aber feucht und will nicht richtig brennen. Einmal mehr kommt den beiden heute Onishs langjährige Erfahrung auf Jagdzügen durch die Berge von Atara zu Gute. Dem jungen Schattenwandler gelingt es sogar, das Feuer ohne Zuhilfenahme von Magie zu entfachen. Dánan brachte ihm bei, soweit immer möglich auf Magie zu verzichten, wenn er ein Problem anders lösen kann. Er verwendet deshalb den Rücken seines Messers und einen Feuerstein, um Funken zu schlagen. Diese lässt er auf ein Stück eines trockenen Schwamms fallen, den er in seiner Satteltasche mitführt. Sehr vorsichtig nährt er die kleine Flamme. Kej sieht ihm zu, während sie die Pferde trockenreibt. Die Tiere sind müde, aber immer noch gesund und nicht überanstrengt. Sie wird ihnen später etwas auf ihrer Flöte vorspielen. Während die braune Stute liebevoll an ihrem Haar knabbert, bewundert Kej Onishs Geschicklichkeit und Effizienz beim Einrichten des Lager. Sobald die ersten Flammen seines Feuers auflodern, setzt sie einen Topf mit Wasser auf. Sie besitzen noch genug Vorräte, um daraus eine warme Suppe zu kochen. Das wird gut tun, nach dem langen Ritt im Regen. Sobald alles bereit ist, rückt die junge Magierin näher zum Feuer, um ihre nassen Sachen zu trocknen. Onish lächelt ihr zu. Er ist froh, dass seine Begleiterin sich wortlos mit dem langen Tagesetappen und dem schlechten Wetter abfindet. Er selbst steht seit Tagen unter einer zunehmenden Anspannung. Ob das die Veränderung im Gefüge der Magie ist, von der Dánan und Jakrim sprachen?
In diesem Moment spürt der Schattenwandler die Anwesenheit des Kae. Die kleine Dunkelheit nähert sich offen dem Lagerfeuer. Kej bemerkt sie ebenfalls fast sofort. Fasziniert beobachtet sie den schwarzen Nebel, der sich nur wenige Schritte vom Feuer entfernt verdichtet. Ungeduldig bedeutet ihr Onish, ihre Flöte herauszusuchen. Sie leistet der Aufforderung mit einem Lächeln Folge. Zum ersten Mal freut sie sich darauf, ihre Magie ausüben zu können. Bis jetzt fürchtete sie sich immer vor ihren eigenen überraschenden Fähigkeiten. Vielleicht ist das gar nicht so verschieden von Onishs Angst vor dem Reiten? Entschlossen schiebt sie diesen Gedanken für den Moment beiseite. Das von Natur aus scheue Kae ist bestimmt nicht hier, um einen freundschaftlichen Besuch abzustatten. Leise beginnt sie die Melodie zu spielen, mit der sie damals den Bären beruhigte.
Die kleine Dunkelheit verdichtet sich noch etwas mehr und wird klarer sichtbar, als die Musik beginnt. Kej ist sich sicher, dass sie es nicht mit dem gleichen Kae zu tun hat wie beim letzen Mal. Dieses hier scheint selbstsicherer, direkter und richtet seine Gedankenbilder sofort an die Musikerin. Sie hat nur noch Augen für das Wesen der Nacht und bemerkt nicht, wie Onish fasziniert näher rückt. Wie das erste Kae spricht auch dieses nur in Bildern. Aber entweder hat Kej bereits mehr Übung oder diese Dunkelheit drückt sich deutlicher aus. Die Botschaft scheint ihr klarer und verständlicher. Als sie glaubt, alles begriffen zu haben, bedankt sie sich mit einer fröhlichen kleinen Melodie, die das Kae sanft zum Pulsieren bringt. Dann verfließen seine Konturen und wie ein dunkler Nebel weht es zwischen den Bäumen davon. Kej senkt ihre Flöte und klopft sie aus, bevor sie das Instrument zurück in ihre Tasche gleiten lässt. Onish versucht, sich seine Ungeduld nicht anmerken zu lassen. Endlich ist die junge Frau bereit zu sprechen.
«Das Kae brachte Nachricht von Talisha. Ich glaube, sie ist tatsächlich hierher unterwegs. Entweder bekomme ich Übung darin, die Dunkelheiten zu verstehen, oder dieses hier hat sich mehr Mühe gegeben, mir verständliche Bilder zu zeigen.»
«Weißt du, wie weit es noch ist, bis wir Talisha treffen?»
«Nein, so gut verstehe ich die Kaedin doch noch nicht. Aber es hat mir eine lange Reihe von Landmarken gezeigt, denen wir folgen sollen. Ich hoffe, ich konnte sie mir alle in der richtigen Reihenfolge merken, es sind wirklich viele.»
«Vielleicht hilft es dir, dich zu erinnern, wenn du die Melodie noch einmal spielst?»
Kejs Augen blitzen hoffnungsvoll auf. Rasch holt sie ihre Flöte wieder heraus und spielt mit geschlossenen Augen noch einmal die getragene Melodie. Ab und zu unterbricht sie sich, um eine Passage zu wiederholen. Schließlich setzt sie das Instrument ab. Sie ist über ihren Erfolg begeistert.
«Du hast recht, die Melodie hilft mir tatsächlich, mich zu erinnern! Morgen sollen wir in diesem breiten Tal weiterziehen, bis wir zu einem Hügel kommen, der aussieht wie der Kopf einer Hornschlange. Dann führt der Weg um den Hügel herum und weiter nach Süden, bis zu einem Bach, dem wir folgen müssen...»
«Halt, das genügt für den Moment. Hauptsache, du erkennst die Landmarken, wenn wir sie erreichen.»
Kej lächelt zufrieden. Onish hat zum ersten Mal seit Tagen das Gefühl, sich etwas entspannen zu dürfen. Mit einem dünnen Zweig rührt er Kejs Suppe um, die gerade zu kochen beginnt. Ein angenehmer Duft breitet sich im Lager aus.

Onish | Wattys 2015 GewinnerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt