Onish 1-1 Gewitter

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Erstes Buch

Sohn der Sonne

Gewitter

Der Jäger putzt sein Messer sorgsam mit einem Büschel Gras und steckt es zurück in die Lederscheide an seinem Gürtel. Während er aufsteht wirft er stirnrunzelnd einen Blick hinüber zu den schwarzen Wolken, die sich bedrohlich am westlichen Horizont auftürmen. Er muss sich beeilen, wenn er auf dem Heimweg nicht bis auf die Haut nass werden will. Geschickt entspannt er seinen Jagdbogen und steckt den benutzten Pfeil zurück in den Köcher, bevor er seine Beute aufhebt und sich auf den Heimweg macht. Wenn er Glück hat, kann er einen großen Teil des Abstiegs hinter sich bringen, bevor das Unwetter die Steine und das welke Gras auf der kahlen Hügelflanke trügerisch rutschig macht.
Seine Schritte sind trotz aller Eile bedacht und geräuschlos. Er ist seit langem gewohnt, allein im Wald und in den Bergen unterwegs zu sein. Er weiß genau, wo Gefahren lauern und dass ihn niemand finden wird, wenn er hier verunfallt. Deshalb bleibt er trotz oder gerade wegen des drohenden Unwetters vorsichtig. Eigentlich hatte er vor, ein größeres Tier zu erlegen. Nur deshalb ist er soweit aufgestiegen. Nun ist es ihm ganz recht, dass er nur zwei Kaninchen zu tragen hat und schnell vorankommt.
Die Stimmung wird immer bedrohlicher, Wolken schieben sich vor die Sonne und das Licht wirkt gelblich und fahl. Die Luft knistert beinahe, so stark ist die statische Ladung. Ein erster Blitz zuckt in der Ferne über den dunklen Himmel. Das Rollen des Donners folgt erst viel später, ein langanhaltendes, entferntes Rumpeln. Danach ist es ruhig, als würde die Welt den Atem anhalten. Nur das Knirschen kleiner Steinchen unter den Schritten des Jägers stört die gespenstische Stille. Inzwischen hat er den Punkt erreicht, von wo aus er hinunter ins Tal blicken kann. Das kleine Haus, das sich in den Schutz der mächtigen Felswand duckt, ist nicht zu sehen. Es liegt gut vor allen Blicken verborgen. Nur wer dieses kleine Hochtal kennt und willkommen ist, kann es finden. Ein alter magischer Bann verhindert erfolgreich das Eindringen ungebetener Gäste. Zufrieden lässt der Jäger seinen Blick über den Wald gleiten, der sein Heimattal verbirgt. Er wird den Schutz der großen Tannen noch vor dem ersten Regen erreichen. Gerade will er sich abwenden und den unterbrochenen Abstieg fortsetzen, als ihm über dem Wald eine ungewohnte Bewegung auffällt.
Unten beim schmalen Grat am Eingang des Tals, direkt über dem Weg, der zum Haus führt, erhebt sich ein Schwarm Vögel in die Luft. Sie flattern erschrocken auf, um sich ein kleines Stück weiter wieder auf einem Baum niederzulassen. Wenige Augenblicke später wiederholt sich der Vorgang. Es besteht kein Zweifel, da unten steigt jemand zum Tal auf. Der oder die Fremde ist bereits in den Bereich des magischen Schutzbanns eingedrungen. Unangemeldete Besucher sind ausgesprochen selten. Der Jäger reißt den Blick von den verstörten Vögeln los und setzt eilig seinen Abstieg fort. Er muss das Haus unbedingt vor dem Besuch erreichen. Die Gefahr durch das drohende Gewitter verblasst gegenüber dem nagenden Gefühl, dass sich da unten namenloses Unheil ankündigt.

~ ~ ~

Dánan tritt vor die Tür des kleinen Hauses, das sie vor vielen Jahren von ihrem Vorgänger Antim erbte. Der Türsturz ist niedrig und die alte Tanna muss sich bücken, obschon sie nicht sehr groß ist. Aber das fällt ihr schon längst nicht mehr auf. Inzwischen ist das hier ihr Heim, das einzige feste Zuhause, das die Schattenwandlerin je kannte. Sie hätte es bis vor einigen Jahren nicht für möglich gehalten, dass sie nach einem langen Leben des Umherziehens noch irgendwo sesshaft werden könnte. Aber sie übernahm von Antim nicht nur dieses Haus. Manchmal trägt sie schwer an der Last der Verantwortung, die ihr der größte aller Schattenwandler bei seinem unerwarteten Tod hinterliess. Aber sie beklagt sich nicht, sie weiß, was sie nicht nur ihrem Volk und der Gilde der Schattenwandler, sondern auch Antims Erinnerung schuldig ist.
Müde streicht Dánan eine Strähne ihres tiefschwarzen, von weißen Strähnen durchzogenen Haars hinters Ohr. Es ist drückend schwül und drüben über dem Wald zucken die ersten Blitze des nahenden Gewitters. Vielleicht ist das der Grund für die unbestimmte Unruhe, die sie schon den ganzen Nachmittag quält. Beinahe freudig begrüßt die Schattenwandlerin die ersten schweren Regentropfen, die ihr Gesicht benetzen. Dem Garten schadet es bestimmt nicht, wenn es endlich regnet. Seit Tagen ist es in Atara ungewohnt heiß und trocken. Allerdings fürchtet Dánan, dass dieses Gewitter Hagel bringt, der ihrem sorgsam gehegten Kräutergarten Schaden zufügen könnte. Kritisch mustert sie den bedrohlichen Himmel und die mächtigen Wolkentürme. Sie könnte Magie einsetzen, um den Hagelsturm abzuwenden. Aber das widerspricht nicht nur den Regeln ihrer Gilde, sondern auch ihrer innersten Überzeugung. Sie lächelt kurz über ihre eigenen Gedankengänge und seufzt, als ihre Gedanken weiterwandern. Ihr Schüler ist da draußen unterwegs. Eigentlich wollte er gegen Mittag zurück sein. Nun ist der Nachmittag schon vorgerückt und angesichts des Unwetters beginnt Dánan, sich Sorgen zu machen. Onish ist längst alt genug, um auf sich selber aufzupassen. Aber seit sie damals nach Antims Tod die Verantwortung für seinen letzten Schüler übernahm, steht er ihr so nahe wie ein eigener Sohn. Trotzdem rückt unweigerlich die Zeit näher, wo der Junge ihr Haus verlassen und seinen eigenen Weg gehen muss. Dánan wird es schwer fallen, ihn ziehen zu lassen. Er war ihr erster Schüler und er brauchte sie nach den Erlebnissen bei Antims Tod genauso, wie sie ihn brauchte, um sich an dieses sesshafte Leben zu gewöhnen. Zusammen meisterten sie alle Widerwärtigkeiten und bauten in Antims Fußstapfen eine behagliche Existenz auf.
Ein böiger Wind schüttelt die Bäume und der Regen wird kräftiger. Dánan bleibt trotzdem vor dem Haus stehen und blickt erwartungsvoll hinüber zu dem schmalen Pfad, auf dem Onish aus dem Wald auftauchen müsste. Sie schickt ihm ihre Gedanken entgegen, in der Hoffnung, dass er bald kommt und ihm nichts passiert ist. Die Tanna weiß, dass sie weder eine prophetische Gabe hat noch den Lauf des Schicksals beeinflussen kann. Ihre große Begabung liegt in der Heilkunst. Aber sie glaubt fest daran, dass es niemals schadet, auf die glückliche Heimkehr eines geliebten Menschen zu hoffen.
Ein gewaltiger Blitz zuckt über den dunklen Himmel und leuchtet das Tal einen Moment lang blendend hell aus. Unmittelbar darauf folgt ein lauter Donnerschlag. Das Gewitter ist gleich hier. Dánan zieht fröstelnd ihren Schal enger um die Schultern. Plötzlich wird der Gewitterregen um ein Mehrfaches kräftiger. Die Schattenwandlerin wirft einen letzten hoffnungsvollen Blick hinüber zum Waldrand und duckt sich zurück in den Schutz der Hütte. Noch bevor sie die Tür hinter sich schließen kann, bemerkt sie drüben auf dem Pfad eine unbestimmte Bewegung. Geduckt bleibt sie im Eingang stehen. Es kümmert sie nicht, dass sie vom Regen durchnässt wird. Die Tropfen fallen so dicht und schnell, dass sie die laufende Gestalt zunächst kaum erkennen kann. Ein freudiges Lächeln erhellt ihr von der Sonne gebräuntes Gesicht. Ohne zu zögern tritt sie hinaus in den Regen, um ihren klitschnassen Schüler in die Arme zu schließen.
«Dánan, du hättest nicht herauskommen sollen. Du wirst nass!»
Onishs vorwurfsvoller Ton bringt die Schattenwandlerin zum Lachen. Seit einiger Zeit macht der Junge sich ständig Sorgen um sie. Dabei ist sie für ihre Gilde verhältnismäßig jung und fühlt sich gesund.
«Ich werde bestimmt wieder trocken. Das ist nicht das erste Mal, dass ich in einem Gewitterregen stehe. Ich habe mir Sorgen um dich gemacht. Du warst lange unterwegs. Komm, lass uns hinein gehen.»
Wortlos folgt ihr der junge Jäger in die geräumige Küche und legt die erbeuteten Kaninchen auf den Tisch, bevor er sein langes blondes Haar auswringt und seine nasse Jacke auszieht. Dánan hängt sie zusammen mit ihrem Schal zum Trocknen ans Feuer. Seinen Bogen und den Köcher voller Pfeile stellt Onish griffbereit neben die Tür. Dánan sieht ihm von der Herdstelle aus zu.
«Und, wie war es auf dem Berg?»
«Wie immer, bis das Gewitter kam. Ich hatte gehofft, etwas größere Beute zu finden, deshalb bin ich fast bis zum steinigen Tal hinüber gestiegen. Aber als sich das Wetter verschlechterte, dachte ich, es sei vernünftiger, umzukehren. Vom Grat bei der kahlen Flanke aus habe ich unten über dem Waldweg mehrmals Vögel auffliegen sehen. Ich denke, wir bekommen bald Besuch.»
«Bist du sicher? Vielleicht hat das Gewitter die Vögel verstört?»
Onish schüttelt nur den Kopf und Dánan weiß aus langer Erfahrung, dass sie nicht nachzufragen braucht. Der Junge besitzt für solche Dinge einen beinahe untrüglichen Instinkt. Sie reicht ihm einen Laib Brot und ein Stück Käse. Onish lässt sich nicht zweimal bitten. Der Weg war lang und er hat seit heute morgen nichts gegessen. Er öffnet die Tür einen Spalt breit und setzt sich so, dass er während des Essens den Waldrand beobachten kann.
Der Regen prasselt kräftig auf das alte Schindeldach. Im Haus ist es aber trocken und warm. Über Onishs durchweichter Jacke bildet sich in der Hitze des Feuers Dampf. Der Junge späht unverwandt hinaus in den Regen. Es ist schwierig, in den windgepeitschten Wasserschwaden etwas zu erkennen, aber er ist sicher, dass sich da draußen jemand dem Haus nähert. Dánan hantiert am Herd und setzt schweigend Teewasser auf. Immer wieder mustert sie beunruhigt ihren Schüler. Sie spürt seine Anspannung und verlässt sich aus jahrelanger Erfahrung auf seine Begabung. Wenn Onish meint, dass jemand kommt, dann wird in nächster Zeit Besuch hier auftauchen, daran besteht kein Zweifel.
«Vielleicht hat er im Wald vor dem Unwetter Schutz gesucht?»
«Vielleicht. Aber ich glaube, es ist eine Sie. Oder vielleicht sind es mehrere, ich bin nicht ganz sicher. Aber es ist auf jeden Fall eine Frau mit einer starken magischen Ausstrahlung dabei. Und ich spüre intensive Angst, sie muss also ganz in der Nähe sein. Angst und etwas wie ... Schmerz.»
Dánan wirft ihrem Schüler einen nachdenklichen Blick zu. Sie hat sich schon längst an seine Begabung gewöhnt, die innersten Gefühle von Menschen wahrzunehmen. Es ist ein Talent, das ihm manchmal zu schaffen macht, besonders in großen Menschenansammlungen. Sie ist nicht sicher, ob sie es als besondere Gabe oder als Fluch betrachten soll. Aber im Moment nimmt sie es einfach als Hinweis darauf, was unmittelbar bevorsteht. Sie rührt eine Handvoll Kräuter in das kochende Wasser und stellt den Tee zum Ziehen beiseite. Dann geht sie hinüber in den kleinen Raum, in dem sie ihre Heilmittel aufbewahrt, und kommt mit ihrer Tasche für Notfälle zurück. Onish nickt ihr bestätigend zu. Er ist sicher, dass Dánans Heilkunst sehr bald gebraucht wird. Dann wandert sein Blick wieder zurück zur Tür und hinaus zum Waldrand.
Zufrieden mit ihren Vorbereitungen tritt Dánan neben ihren Schüler und legt ihm beruhigend eine Hand auf die Schulter. Onish lässt sich nicht ablenken. Während er unverwandt den Wald beobachtet, ist seine Stimme ein leises Flüstern.
«Sie sind gleich da. Die Frau hat Angst, Angst um das Kind. Es hat Schmerzen, wohl Fieber. Sein Geist ist verwirrt.»
Dánan tritt rasch an die Tür und späht ebenfalls hinaus. Dort löst sich nun eine geduckte Gestalt aus dem Schatten der sturmgepeitschten Bäume und kommt mit torkelnden Schritten durch den strömenden Regen auf das Haus zu. Onish drängt sich ohne ein Wort an der Schattenwandlerin vorbei aus der Tür. Er läuft der Besucherin mit großen Schritten entgegen und nimmt ihr sorgsam das Bündel ab, das sie in den Armen trägt. Dánan erkennt, dass sich die Fremde dankbar auf Onishs Arm stützt, als er sie zielstrebig durch den Gewitterregen zum Haus führt.

Onish | Wattys 2015 GewinnerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt