Die Wölfin und das Mädchen
Onish legt ein Stück Holz auf das kleine Feuer und wendet den Spieß, der den Flammen am nächsten im Boden steckt. Sie fanden diesen Platz kurz vor Sonnenuntergang und sind seither damit beschäftigt, ihre Jagdbeute haltbar zu machen. Kej ist unterwegs, noch mehr Feuerholz zu sammeln. Zum Glück war das Wetter tagsüber gut, so dass genügend trockenes Holz vorhanden ist. Onish ist froh, dass der Lagerplatz abseits der Straße liegt und durch eine Gruppe großer Felsblöcke geschützt ist. Er hat keine Lust, auf andere Reisende zu treffen, denn er will endlich mehr über Kej herausfinden. Vielleicht ist sie inzwischen bereit, über sich zu erzählen.
Mit einem Zweig rührt er die Suppe um, die in ihrem kleinen Topf über dem Feuer kocht. Am Nachmittag begegneten sie einem Bauern, der mit Waren unterwegs nach Himenar war. Er tauschte etwas Getreide gegen ein Stück frisches Fleisch. Deshalb gibt es nun ein richtiges Festmahl. Kej nähert sich geräuschvoll dem Lagerplatz. Sie zerrt einen kleinen, abgestorbenen Baum hinter sich her. Onish schätzt, dass sie damit genug Holz haben, um die ganze Nacht hindurch das Feuer zu unterhalten. Er nickt anerkennend. Das Mädchen lacht fröhlich zurück.
«Wenn du willst, kann ich einen zweiten davon holen. Es gibt eine ganze Gruppe dort oben auf der Felsstufe. Ich glaube, sie sind im letzten Winter abgerutscht und verdorrt.»
«Ich denke, der hier sollte reichen. Wir wollen nicht, dass jemand unser Feuer sieht. Andererseits ist es einfacher, einen zweiten zu holen, solange es noch hell ist.»
«Genau. Ich bin gleich zurück.»
Onish will anbieten, selber zu gehen. Aber Kej ist voller Tatendrang. Der Junge schüttelt den Kopf. Er versteht nicht, woher sie diese Energie nimmt. Kej mag fast gleich alt sein wie er, aber ist doch ein Stück kleiner und wenn sie ihre weite Jacke auszieht, ist zu erkennen, wie mager sie ist.
Vorsichtig wendet Onish zwei Spieße. Es kommt ihm darauf an, dass die dünn geschnitten Fleischstreifen langsam trocknen, damit sie möglichst lange haltbar bleiben. Natürlich wäre es besser, das Fleisch einzusalzen oder zu räuchern. Aber dazu fehlen ihm Zeit und Mittel, vor allem natürlich das Salz. Deshalb wird es in den nächsten Tagen Trockenfleisch geben. Aber Kej stört diese Aussicht nicht. Sie half eifrig mit, die Jagdbeute in Streifen zu schneiden und war beeindruckt von Onishs Kenntnissen, was deren Konservierung anbelangt. Der Junge hört sie zurückkommen. Der zweite Baum ist noch größer als der letzte.
«So, das reicht. Komm her, die Suppe ist fertig!»
«Gut, Holz suchen gibt Hunger.»
Kej lässt den Baum beim Brennholz liegen und taucht ihren Löffel in den kleinen Topf, um die Suppe zu probieren. Onish beobachtet, wie sie über die heiße Flüssigkeit bläst, um sich den Mund nicht zu verbrennen. Sie schlürft die Suppe vorsichtig, verzieht zufrieden das Gesicht und leckt sich die Lippen. Kej nimmt den Topf vom Feuer und stellt ihn vorsichtig auf einen flachen Stein in der Mitte zwischen sich und Onish. Dieser reicht ihr einen Spieß mit frisch gebratenem Fleisch.
«Danke. Darauf habe ich mich den ganzen Tag gefreut!»
Sie reicht dem Jungen im Tausch gegen den Spieß den gemeinsamen Löffel. Dieser taucht ihn hungrig in den Topf. Die Suppe schmeckt gut. Er lächelt Kej zu, die mit ihrem Stück Fleisch beschäftigt ist. Sie hat beim Essen einen beinahe andächtigen Gesichtsausdruck und genießt jeden Bissen. Onish beschließt, mit seinen Fragen zu warten. Er will die gemütliche Stimmung der Mahlzeit nicht stören. Außerdem ist er selber hungrig.~ ~ ~
Die weiße Wölfin hebt den Kopf und wittert in den Wind. Talisha ließ gestern die letzten Einzelhöfe in der Umgebung von Himenar hinter sich und bewegt sich nun endlich durch beinahe unberührtes Waldland. Sie weiß, dass Onish sich an die Straße halten wird. Deshalb bleibt ihr nichts anderes übrig, als sich ebenfalls in die Nähe von Menschen zu begeben. Eigentlich müsste sie ihren Schützling in dieser Nacht finden. Von den Xylin weiß sie, dass er Dánans Haus vor drei Tagen Richtung Norden verlassen hat. Sie selber ist deutlich schneller unterwegs und sollte ihn bald einholen. Talisha nimmt den unterbrochenen Weg wieder auf. In einem kräftesparenden Trab folgt sie seitlich im Unterholz der Straße.
Es ist ihr ein Anliegen, in Onishs Nähe zu sein, wenn er in die Welt hinauszieht. Sie will sicher sein, dass er der Herausforderung gewachsen ist und mit den Gefahren zurechtkommt. Manchmal fragt sie sich, warum sie sich diesem jungen Menschen gegenüber verpflichtet fühlt. Aber eigentlich kennt sie die Antwort. Als sie Onish damals nach Atara zurückbegleitete, war er noch jung und hilflos. Sie übernahm für ihn die Verantwortung, als wäre er ihr eigenes Junges. Und da Menschen um so vieles langsamer erwachsen werden als Wolfsjunge, fühlt sie sich für ihren ungewöhnlichen Schützling zuständig, bis sie sicher sein kann, dass er die Hilfe seiner Wolfsmutter nicht mehr braucht. Talisha weiß, dass dieser Moment näher rückt. Aber bis es soweit ist, wird sie für Onish da sein, was immer ihn bedrohen mag.
In regelmäßigen Abständen quert die Wölfin die Straße und senkt dabei die Nase, in der Hoffnung, die gesuchte Fährte endlich wahrzunehmen. Der Regen vom Vortag hat allerdings die meisten Spuren ausgelöscht. Der Weg beginnt nun etwas zu fallen und zieht in ein Tal hinunter. Das entfernte Plätschern von Wasser erinnert sie daran, dass sie schon lange nichts mehr getrunken hat. Talisha beschleunigt ihre Schritte. Aber bevor sie den Bach erreicht, vergisst sie ihren Durst. Hier, direkt am Ufer auf einer ausgetretenen Fläche bei einer Feuerstelle nimmt sie deutlich Onishs vertrauten Geruch wahr. Er muss vor nicht sehr langer Zeit diesen Lagerplatz benutzt haben, vielleicht erst gestern. Daneben erkennt Talisha aber andere Signaturen. Ob der Junge nicht allein unterwegs ist? Vorsichtig untersucht die Wölfin das Lager. Es besteht kein Zweifel, hier verbrachte Onish die letzte Nacht, zusammen mit einem anderen Menschen. Talisha prägt sich den neuen Geruch ein. Falls diese Person eine Gefahr für ihren Onish darstellt, wird sie sich darum kümmern.
Die Wölfin löscht am Bach ihren Durst, bevor sie sich wieder auf den Weg macht. Nun kann sie nichts mehr von ihrer Fährte abbringen.
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Onish | Wattys 2015 Gewinner
FantasyDer junge Schattenwandler Onish soll sein abgelegenes Tal verlassen, um in der weißen Stadt Lelai seine Ausbildung abzuschließen. Als er unterwegs der Ausreißerin Kej begegnet, ahnt er nicht, dass das Schicksal ihn und seine neue Bekannte bis ans nö...