Onish 2-10 Regen in den Bergen

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Regen in den Bergen

Am nächsten Morgen verabschieden sich Kej und Onish sehr früh von ihren neuen Freunden. Dalish verbrachte eine ruhige Nacht und fühlt sich heute tatsächlich etwas besser. Der junge Schattenwandler überlässt Alanain den Rest seines Vorrats an Sillai und gibt ihr noch einmal genaue Anweisungen, während Kej die Pferde sattelt. Die Kinder möchten die Besucher am liebsten gar nicht ziehen lassen. Schließlich ruft Laon sie zur Ordnung.
«Kej und Onish können nicht einfach hier bleiben, also lasst die beiden jetzt in Ruhe. Vielleicht sehen sie ja auf dem Rückweg aus den Bergen bei uns vorbei?»
«Und erzählt ihr uns dann von den Berggeistern?»
Kej verspricht lachend, genau zu berichten, falls es ihr tatsächlich gelingen sollte, Berggeister aufzuspüren. Onish ist nachdenklich. Seit gestern Abend ist er nicht mehr sicher, dass die Diuneldí nur eine Legende sind. Andererseits bietet Dalishs Geschichte auch keine Veranlassung, sie speziell zu fürchten. Laon bemerkt seine Stimmung und nimmt den jungen Schattenwandler beiseite.
«Dich bedrückt etwas. Was genau suchst du in diesen Bergen?»
«Ich soll jemanden treffen, und es soll sehr wichtig sein. Kennst du den Shatosh?»
«Den Feuerberg? Ja, obwohl ich selber noch nie so weit nach Westen gekommen bin. Erinnerst du dich an den Tag, als die Erde rumpelte und bebte? Ein Jäger, der damals in der Gegend des Shatoshs unterwegs war, behauptete, der Berg habe an diesem Tag tatsächlich Flammen ausgestoßen. Willst du wirklich dorthin?»
«Ich muss. Hat der Jäger noch mehr berichtet?»
«Nicht viel, ich glaube, er hat die Gegend so rasch wie möglich verlassen. Die meisten hier hielten ihn für einen Lügner. Aber ich bin sicher, dass er etwas gesehen hat. Er schien mir nicht zu den Prahlern zu gehören. Zudem hingen damals mehrere Tage lang dunkle Wolken am Abendhimmel. Bei Sonnenuntergang verfärbten sie sich blutrot. Möglicherweise ist der Feuerberg tatsächlich erwacht.»
«Ich habe so etwas gehört. Nun, wir werden das herausfinden, denke ich.»
«Ich wünsche euch viel Glück, Onish, dir und Kej. Und vergesst nicht, uns auf dem Rückweg zu besuchen. Wir warten auf eure Geschichte.»
Onish drückt Laon schweigend die Hand, bevor er sich in den Sattel schwingt. Kej ist schon bereit. Lachend winkt sie zum Abschied der ganzen Familie zu. Dann treiben die beiden Reisenden ihre Pferde an. Die ersten Sonnenstrahlen streichen über das taufeuchte Gras, als sie das kleine Dorf flussaufwärts verlassen.

Noch eine ganze Weile können sie das Lachen der Kinder hören, die ihre gestrige Scheu endgültig abgelegt haben. Aber sobald der Weiler hinter einer Hügelkuppe verschwunden ist, umfängt sie wieder die Stille der Bergwelt. Kurz darauf stößt Talisha zu ihnen. Die Pferde haben sich längst an die Wölfin gewöhnt und scheuen nicht einmal mehr. Onish ist erleichtert, seine alte Freundin wiederzusehen. Er lässt sich schnell aus dem Sattel gleiten und krault ihr den Nacken.
«Talisha, verzeih, dass wir gestern nicht weiter gezogen sind. Ein kranker Mann in dem Dorf brauchte meine Hilfe.»
‹Wir wären gestern nicht viel weiter gekommen. Die Pferde waren müde.›
«Ich weiß. Trotzdem tut es mir leid, dass wir dir nicht einmal Bescheid geben konnten.»
‹Die Spur des jungen Wolfs führte ins Dorf hinein, aber nicht wieder hinaus. Wenn du Hilfe gebraucht hättest, wäre dir ein Mittel eingefallen, um mich zu rufen.›
«Du hast natürlich recht. Komm, lass uns sehen, ob wir in den Bergen Dalishs Diuneldí finden.»
‹Hast du jemanden kennengelernt, der Diuneldí gesehen hat?›
«Zumindest behauptet er es. Ich glaube, dass er die Wahrheit sagt.»
‹Nun, dann hat sich euer Aufenthalt in dem Dorf gelohnt. Ich vermute, dass nicht einmal Silàn sicher weiß, ob diese Wesen existieren. Für uns Kinder der Nacht gehören sie genauso ins Reich der Legenden wie die Shahraní.›
«Nach allem, was du uns erzählt hast, frage ich mich, ob die Shahraní wirklich nur Legenden sind. Aber lass uns weiterziehen, wir haben genug Zeit verloren.»
Talisha entblößt ihre scharfen Zähne in einem Wolfslächeln. Kej kann sich aus Onishs Beitrag zu dem Gespräch zusammenreimen, worum es ging. Sie lächelt zurück. Am Abend werden sie genug Zeit finden, die Unterhaltung am Lagerfeuer fortzusetzen.

Onish | Wattys 2015 GewinnerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt