Nächtliche Begegnung
Liha beobachtet besorgt, wie die Sonne hinter dem Bergkamm im Westen versinkt. Nebel rollt bereits wieder über das Land und die Temperatur fällt rasch. Er löst den Riemen, der seinen zusammengerollten Mantel auf dem Sattel hält, und wirft sich das schwere Kleidungsstück einhändig über die Schultern, ohne die Zügel loszulassen. Sie werden bald einen Lagerplatz für die Nacht suchen müssen. Er zügelt sein Pferd, als er Berim zurückkommen sieht, den er heute Mittag zur Erkundung losschickte. Seine Männer folgen seinem Vorbild, ohne dass ein Befehl notwendig wäre. Da sie nun sehr nahe an Hajtash und seine Wagen herangekommen sind, ist besondere Vorsicht geboten. Liha weiß, dass der Shalen ein Gegner ist, dem nicht mit reiner Waffengewalt beizukommen ist. Er wartet, bis sein Fährtenleser herankommt. Der erfahrene Krieger streicht sich müde eine Strähne seines schulterlangen dunklen Haars aus dem Gesicht. Liha wundert sich nicht mehr über diese Haarfarbe, seit er weiß, dass der Sohn eines Tanna und einer Kelen das Spurenlesen von seinem Vater in den Wäldern von Gerin lernte.
«Was gibt es zu berichten, Berim?»
«Kommandant, erinnerst du dich an die Spur, die wir heute Mittag fanden? Von den beiden Reitern, die aus den Bergen heruntergekommen sind? Wir haben uns doch gefragt, wo sie plötzlich geblieben sind.»
«Ich erinnere mich. Was ist mit ihnen?»
«Sie sind umgekehrt und lagern nun bei einem kleinen Wald an der nächsten Flussbiegung. Ich glaube, einer von ihnen ist verwundet. Trotzdem bin ich überzeugt, dass sie die gleichen Leute verfolgen wie wir.»
Liha reibt sich nachdenklich das Kinn. Er hat sich seit Tagen nicht rasiert und sein Bart ist inzwischen schon fast so lang, dass er nicht mehr kratzt. Wenigstens schützt er das Gesicht vor der Kälte. Der oberste Feldherr von Kelèn schiebt diese unnötigen Gedanken beiseite und versucht seinen nächsten Schritt zu planen.
«Wenn sie ebenfalls den Shalen verfolgen, sollten wir vielleicht mit den beiden sprechen. Denkst du, dass sie gefährlich sind?»
«Keine Ahnung, Kommandant. Ich habe sie nur aus der Ferne gesehen. Es scheint sich um zwei junge Burschen zu handeln. Einer ist am Bein verletzt, er konnte zwar reiten, aber nicht selbstständig gehen. Wenn sie nicht auf dieser Spur nach Westen reiten würden, würde ich sie für harmlose Jäger halten.»
Liha blickt noch einmal zur Sonne, die nun ihre letzten Strahlen ins Tal des Selin hinunter schickt. Dann fällt er eine Entscheidung.
«Die beiden müssen Hajtash und seinen Leute heute begegnet sein. Wenn ich dich richtig verstehe, sind sie danach ein Stück weiter flussabwärts geritten um schließlich doch wieder umzudrehen und den Feuermagier zu verfolgen. Stimmt das?»
Berim nickt nur. Der Kommandant verlässt sich in Sachen Spurenlesen vollständig auf seinen Späher. Dieser scheint darüber immer wieder erstaunt. Er kann nicht wissen, wie sehr sein Äußeres und seine ruhige Selbstsicherheit Liha immer wieder an seinen Freund A'shei erinnern. Bisher besteht für den Kommandanten kein Grund, an den Fähigkeiten Berims zu zweifeln. Er wendet sich entschlossen an seine Krieger.
«Gut, lasst uns das Lager dieser beiden geheimnisvollen Reiter aus den Bergen besuchen. Bis jetzt deutet nichts darauf hin, dass sie Freunde des Shalen sind. Und wenn doch, werden wir uns zu wehren wissen.»~ ~ ~
Onish spürt die Annäherung der Fremden lange bevor er ein Geräusch vernimmt oder sie im Licht des Lagerfeuers zu Gesicht bekommt. Sein magischer Sinn registriert eine Mischung aus gespannter Erwartung, Angst, Neugier, Kampfbereitschaft und vorsichtiger Zurückhaltung. Die Gefühle sind so vielschichtig, dass er sicher ist, dass sich eine größere Zahl von Menschen nähert. Er erkennt aber bei niemandem in der Gruppe eine magische Begabung. Der Schattenwandler verwendet trotzdem die Energie aus den flackernden Schatten des Feuers zum Aufbau seines bewährten Schutzbanns. Sofort lässt der Druck auf seine besondere Wahrnehmung nach und er kann wieder klar denken.
Es kommen mehr Menschen auf ihren schlecht geschützten Lagerplatz zu, als er nach den Worten des Diuneld erwartete. Onish vermisst seine alte Freundin Talisha. Die weiße Wölfin könnte die Fremden unauffällig beobachten und seine eigene Einschätzung überprüfen. Kej bemerkt Onishs Unruhe und versucht mit zusammengekniffenen Augen die Dunkelheit zu durchdringen. Sie senkt die Stimme zu einem Flüstern
«Hast du etwas gehört? Vielleicht sollten wir das Feuer löschen?»
Onish schüttelt den Kopf und versucht seine Begleiterin zu beruhigen. Sie brauchen das Feuer, wenn sie in der Nacht unter freiem Himmel nicht erfrieren wollen. Zudem meinte das Diuneld, ein Freund des Sternenwanderers sei mit dieser Gruppe unterwegs. Vielleicht erhalten sie hier ja tatsächlich unerwartet Unterstützung?
Schade, dass das Diuneld bei Sonnenuntergang seine Substanz oder zumindest seine Sichtbarkeit verlor. Onish hat schon wieder unzählige Fragen, die er dem Lichtwesen stellen möchte. Aber im Moment sind er und Kej hier allein. Vorsichtshalber spannt er die Sehne seines Bogens auf und kontrolliert den Sitz seines Messers in der Scheide. Er muss Kej nicht dazu auffordern, das gleiche zu tun. Schweigend und gespannt erwarten sie die Annäherung der Fremden.
Das erste Geräusch, das die Reiter ankündet, ist das entfernte Wiehern eines Pferdes. Erst eine Weile später ist das regelmäßige Knirschen von Schritten im gefrorenen Schnee zu hören.
DU LIEST GERADE
Onish | Wattys 2015 Gewinner
FantasyDer junge Schattenwandler Onish soll sein abgelegenes Tal verlassen, um in der weißen Stadt Lelai seine Ausbildung abzuschließen. Als er unterwegs der Ausreißerin Kej begegnet, ahnt er nicht, dass das Schicksal ihn und seine neue Bekannte bis ans nö...