Mirai im Winter
Hajtash gießt ein Glas Wein ein und tritt ans Fenster. Der bedeckte Himmel spiegelt seine düstere Stimmung. Er ist verärgert über das missglückte Ritual. Dabei war alles sorgfältig geplant. Nun muss er improvisieren, der unbeabsichtigte Tod Legnishs zerstörte seinen ursprünglichen Plan. Eigentlich hatte er vor, gleich nach dem Ritual mit Legnish die Plätze zu tauschen und heimlich aufzubrechen, um sich ein zweites Mal auf die Suche nach den Shahraní zu machen.
Er erklärte seinem Stellvertreter dieses Täuschungsmanöver ausführlich. Legnish erklärte sich ausdrücklich mit dem Vorgehen einverstanden. Der Narr schien aber den Glauben in seinen Shalen endgültig verloren zu haben, sonst hätte er niemals diesen unnötigen Fluchtversuch unternommen. Hajtash vermutet, dass er den Mann in seiner Wut über dessen Dreistigkeit zu streng bestrafte und so die unangenehme Situation selbst verursachte.
Legnish zog es offenbar vor, einen gewagten Fluchtversuch zu unternehmen, anstatt sich auf Hajtashs Zusicherung zu verlassen, er werde ihm nach dem Ritual die Rolle des Feuermagiers von Penira wieder übergeben. Der Shalen hatte vor, beim Ritual sein eigenes Blutopfer mit jenem von Legnish zu vermischen, um ihre Magie zu verbinden und zu stärken. Vermutlich hätte er auf die Fesseln verzichten und seinem fehlgeleiteten Schüler mehr Vertrauen entgegenbringen sollen. Aber er wollte die günstige Gelegenheit nutzen, seinen Gefolgsleuten deutlich zu zeigen, dass sich die Auflehnung gegen den Shalen nicht bezahlt. Nun, zumindest diesen Punkt stellte das Ritual unmissverständlich klar.
Leider hat der Shalen aber nun keinen Doppelgänger, der sein Verschwinden aus Penira deckt. Es bleibt ihm deshalb nichts anderes übrig, als die junge, unerfahrene Geniri offiziell mit seiner Stellvertretung zu betrauen. Er ließ sie aus diesem Grund heute Morgen an seiner Seite das Feuerritual zelebrieren. Hajtash hofft, dass seine Schülerin das Schicksal ihres Kollegen Legnish als Warnung versteht. Allerdings lernte er während der gemeinsamen Reise Geniri gut genug kennen, um nicht zuviel Vertrauen in ihre Treue und ihr Pflichtbewusstsein zu setzen.Vielleicht sollte er Tejlish bei ihr zurücklassen. Dieser ist Hajtash treu ergeben und wird nicht zulassen, dass Geniri ihn hintergeht.
Nachdenklich lässt der Shalen den dunkelroten Wein in seinem Glas kreisen. Das könnte funktionieren. Wenn er Tejlish richtig instruiert und ihm die Mittel gibt, Geniri im schlimmstenfalls zu stoppen, kann er sich den Rücken in der Hauptstadt freihalten. Jetzt, da Legnish tot ist, besitzt kein anderer seiner Anhänger vergleichbare Macht wie Geniri.
Nun, da er in dieser Sache zu einem Entschluss gekommen ist, kann er sich wieder seiner Hauptaufgabe zuwenden. Trotz des außer Kontrolle geratenen Rituals gelang es Hajtash, die Magie der Sonne und des vergossenen Blutes teilweise für seine Zwecke zu nutzen. Obwohl er sehr rasch reagierte, war leider das meiste Blut im Staub versickert, bevor er dessen Kraft voll ausnutzen konnte. Immerhin erkannte er zwei wichtige Dinge.
Zunächst konnte er die Vermutung bestätigen, dass die Shahraní inzwischen geschlüpft sind und sich bester Gesundheit erfreuen. Deutlich erkannte er einen Moment lang fünf junge Drachen in einer einsamen Berggegend. Bei der Berührung durch seine Gedanken gerieten sie allerdings in Panik und sein Versuch, sie aus der Ferne zu kontrollieren, misslang. Schließlich befreiten sich die Feuerdrachen gewaltsam von seinem Gedankeneinfluss. Sie zögerten nicht, den Ort zu verlassen, an dem er sie fand. Hajtash lächelt still vor sich hin. Die Shahraní wissen nicht, dass er den Anfang ihrer Flucht nach Norden deutlich erkennen konnte. Er ist zuversichtlich, dass er ihre Spur jederzeit wieder aufnehmen kann, sobald ihm genug Sonnenlicht zur Verfügung steht.
Etwa Anderes gibt dem Shalen aber zu denken. Er nimmt einen Schluck Wein und versucht sich mit geschlossenen Augen das Bild zu vergegenwärtigen, das er den Gedanken einer Shahran entnehmen konnte. Sie dachte im Moment ihrer Flucht an eine junge Frau mit flammend rotem Haar und einer Flöte. Neben ihr saß ein blonder Mann, dessen Gesicht dem Shalen seltsam bekannt vorkam. Wo hat er diese beiden schon einmal gesehen und was haben sie mit seinen Drachen zu schaffen?~ ~ ~
Onish sitzt mit untergeschlagenen Beinen auf einem Mauerstück im Hof des Mondbaums und lauscht gespannt der Beratung. Es ist empfindlich kalt. Die warme Decke, in die er sich fest eingewickelt hat, hält den beißenden Wind nur unvollständig ab. Abgesehen davon schleicht sich die Kälte aus der Mauer langsam in seinen Körper. Er wirft Kej einen Blick zu. Ihr scheint es nicht besser zu gehen. Trotzdem konzentriert sie sich auf das Gespräch. Onish findet, dass es sich inzwischen im Kreis dreht.
«Wir Hrankaedí können die Shahraní nicht verfolgen, Ahranan. Sie sind Wesen des Tages und wir Wesen der Nacht. Du brauchst jemanden, der die Freiheit besitzt, tagsüber unterwegs zu sein.»
Silàn nickt Ranoz schweigend zu und lässt den Blick über die Versammlung schweifen. Der Älteste der Drachenschatten hat recht, die Hrankaedí haben keine Möglichkeit, den Shahraní zu folgen. Das gleiche gilt für die meisten der Wesen, die sich auf Silàns Ruf hin heute Abend hier versammelten. Onish kann inzwischen die verschiedenen Drachenschatten an ihren Stimmen erkennen, obwohl sie für sein Auge alle gleich aussehen. Außer Ranoz sind Noak, Salik und Luok anwesend. In einer Ecke des Hofs liegt der schweigsame Schatten eines Ijenkae. Einige Kaedin und eine Gruppe der farbig leuchtenden Xylin sind da. Weil gerade Neumond war, fehlen die Nsilí in der Versammlung: Die Mondlichter besitzen nur einen Körper, wenn der Mond nachts am Himmel steht.
Die Xylin bestätigen, dass die Shahraní seit dem Mittag nach Norden fliegen. Allerdings gelang es den Lichtkugeln nicht, mit ihnen Kontakt aufzunehmen. Sie flogen auch zu schnell, als dass die Xylin ihnen hätten folgen können. Ihr Ziel bleibt deshalb unbekannt und niemand in Silàns eilig einberufener Ratsversammlung hat einen brauchbaren Vorschlag, wie weiter vorzugehen ist.
Talisha nähert sich Onish unbemerkt und legt ihm ihren Kopf auf ein Knie. Die Gedankenstimme der weißen Wölfin ist nur für den Schattenwandler und Silàn zu hören.
‹Onish, wir könnten die Shahraní verfolgen, du, Kej und ich.›
‹Wie stellst du dir das vor? Es ist Winter und alle Pässe nach Norden sind zugeschneit. Wir kämen zu langsam voran.›
‹Vielleicht könnten die Hrankaedí uns einen Pfad über den Miraipass bahnen? Danach müsste der Weg nach Norden offen sein. Es ist bestimmt besser, die Shahraní langsam zu verfolgen als gar nicht. Wenn wir Kontakt mit den Diuneldí aufnehmen können, werden sie uns helfen.›
Onish und Silàn tauschen einen Blick aus. Die Königin steht entschlossen auf und wendet sich an die Xyl, die als Sprecherin für ihre Artgenossen auf ihrer Handfläche sitzt.
«Ich bitte die Xylin, eine Botschaft zu den Diuneldí von Sellei zu tragen. Sagt ihnen, dass die Shahraní bei der letzten großen magischen Aktivität des Shalen nordwärts geflohen sind. Bittet sie um Hilfe bei der Suche und teilt ihnen mit, dass Onish, Kej und Talisha nach Norden zurückkehren, um die Shahraní vor dem Feuermeister zu schützen.»
Die Antwort der Xylin ist nur für Silàn hörbar. Aber daran, dass sie sich sofort in Bewegung setzen und mit vielstimmigem Glockenläuten über die Burgmauer davonwirbeln erkennen alle, dass sie den Auftrag der Königin annehmen. Kej wirft Onish und Talisha einen fragenden Blick zu. Aber bevor Onish sie über den Plan aufklären kann, wendet sich Silàn an Ranoz.
«Besteht die Möglichkeit, dass die Hrankaedí den Miraipass vorzeitig öffnen?»
Ranoz stößt ein rumpelndes Lachen aus, in das seine Gefährtin Noak einstimmt. Onish versteht nicht, was die Drachenschatten an dem Vorschlag so lustig finden. Aber Ranoz zögert nicht, Silàns Frage zu beantworten.
«Wenn Talisha, Onish und Kej auf dem Pass eintreffen, wird er begehbar sein, Ahranan. Diesen Beitrag leisten die Hrankaedí gerne.»
Silàn lächelt zufrieden. Onish krault Talisha nachdenklich den Nacken. Das bedeutet wohl, dass sie so rasch wie möglich aufbrechen müssen. A'sheis Stimme reißt ihn aus seinen Gedanken.
«Raill und Steim, das ist eure Gelegenheit, nach Penira zurückzukehren und Liha zu berichten, was inzwischen geschehen ist. Was denkt ihr?»
«Das ist vermutlich das Beste. Wir müssen früher oder später zurückkehren. Der General hat uns mit einer Nachricht hierhergeschickt, also ist es richtig, wenn wir mit einer Nachricht zu ihm zurückkehren.»
Silàn blickt sich noch einmal in der Runde um, bevor sie die Ratsversammlung beschließt.
«Sehr gut. Ashei, verfasse bitte die Nachricht für Liha. Hamain, kannst du Proviant für deinen Bruder, Steim, Kej und Onish vorbereiten? Ihr vier solltet versuchen, heute Nacht soviel Schlaf wie möglich zu bekommen. Es wird das Beste sein, wenn ihr euch morgen früh auf den Weg macht.»
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Onish | Wattys 2015 Gewinner
FantasyDer junge Schattenwandler Onish soll sein abgelegenes Tal verlassen, um in der weißen Stadt Lelai seine Ausbildung abzuschließen. Als er unterwegs der Ausreißerin Kej begegnet, ahnt er nicht, dass das Schicksal ihn und seine neue Bekannte bis ans nö...