Onish 1-18 Die weiße Stadt

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Die weiße Stadt

Sie erreichen Lelai, die Hauptstadt des Landes Lellini, am frühen Morgen des ersten Herbstvollmondes. Delani meint, er hätte die Reise selten so rasch zurückgelegt. Der meist günstige Abendwind trieb das Schiff stetig voran. Oft konnten sie das Segel auch tagsüber benutzen, zudem trug die Strömung des großen Flusses sie ihrem Ziel unaufhaltsam näher. Sie unterbrachen ihre Reise nur dreimal, in größeren Handelsniederlassungen am Fluss. Dort nahmen sie zusätzliche Güter auf und kauften neue Lebensmittel, um die Reise noch am gleichen Tag wieder fortzusetzen.
Dadurch, dass sie auch nachts unterwegs waren, kamen sie schneller voran, als dies zu Fuß möglich gewesen wäre. Natürlich half die Ortskenntnis Delanis und Akíms die ihnen erlaubt, ihr Schiff auch im Mond- und Sternenlicht sicher durch die heiklen Passagen zu manövrieren. Nur ein einziges Mal blieben sie nachts auf einer Sandbank stecken und mussten das Boot mühsam mit langen Stangen zurück ins tiefere Wasser befördern. Kej ist immer noch froh, dass dies geschah, als Rihàn am Ruder stand. Wäre ihr selbst das Missgeschick passiert, hätte sie es wohl tagelang zu hören bekommen.

Onish steht am Ruder, während es hell wird. Er liebt diese einsame Morgenwache, wenn alle anderen schlafen und er seinen Gedanken nachhängen kann. Der goldene Vollmond nähert sich dem Horizont und im Osten färbt sich der Himmel blau. Ein leichter Nebel über der Wasseroberfläche zeigt an, dass bald der Herbst beginnt. Plötzlich erkennt Onish weit voraus am Ufer einige Lichter. Er ruft nach Delani. Die Kabine des Schiffers liegt direkt unter dem Ruderstand. So braucht Onish nur die kleine Luke zu öffnen, um ihn zu wecken. Der Schlaf des Schiffsführers ist leicht. Fast sofort streckt er den Kopf durch die Luke und zieht sich mit kräftigen Armen an Deck.
«Das sind die ersten Lichter von Lelai. Vor der Stadt liegt ein großer Warenumschlagplatz, wo sich die Händler treffen, die auf Straßen reisen. Es gibt da eine Anlegestelle, die wir benutzen können. Bist du sicher, dass ihr nicht mit uns weiterreisen wollt?»
«Wenn es meine Entscheidung wäre, Delani, würde ich euch gern bis ans Meer begleiten. Aber ich habe keine Wahl, ich muss den Schattenwandler Jakrim besuchen.»
Delani nickt verständnisvoll. Er löst Onish am Ruder ab damit dieser die anderen wecken und an Deck versammeln kann.
Akím ist hellwach und beginnt ungefragt mit den Vorbereitungen fürs Anlegemanöver. Rihàn gähnt herzhaft und Kej bemüht sich erfolglos, Ordnung in ihren verwuschelten roten Haarschopf zu bringen. Sanesh ist der einzig, der fehlt. Onish verzichtet darauf, den Jungen zu wecken. Er braucht immer noch viel Ruhe, um sich von seiner Krankheit zu erholen.
Bald sind alle Leinen angeschlagen und die dicken Fasermatten zum Schutz der Bordwand ausgelegt. Akím mustert zufrieden die Vorbereitungen. Es geht alles schneller mit so vielen willigen Händen. Die Lichter sind nähergerückt, aber es wird noch eine Weile dauern, bis sie die Anlegestelle erreichen. Kej verschwindet in der Kombüse und kommt bald darauf mit Kaffee für alle an Deck zurück. Onish lächelt ihr zu. Sie hat eine Vorliebe für das bittere Getränk entwickelt. Er genießt ebenfalls die willkommene Wärme. Vor dem hellerwerdenden Himmel sind die Lichter bald kaum mehr zu erkennen. Delani steuert das Schiff näher ans Ufer. Akím und Onish bedienen das Segel. Rihàn hilft Kej, die Becher wegzuräumen. Im Morgennebel sind nun erste Hütten zu erkennen. Dahinter erheben sich hell die mächtigen Stadtmauern von Lelai. Die ersten Strahlen der Morgensonne steigt werfen ihr orangegoldenes Licht auf die weiß getünchten Mauern. Onish kann den Blick nicht von der Stadt abwenden. Das ist also Lelai, die ‹Perle des Nordens›. Kej lehnt sich neben ihm an die Reling.
«Wir haben es tatsächlich geschafft! Ich hätte mir niemals zu träumen gewagt, die weiße Stadt einmal mit eigenen Augen zu sehen. Freust du dich?»
«Ich bin mir nicht sicher. Ich spüre immer noch diese Unruhe. Vielleicht wird es besser, wenn wir Jakrim finden. Ich fürchte nur, das wird nicht einfach, in dieser riesigen Stadt.»
Akím legt ihm eine Hand auf den Arm.
«Denkst du, dein Jakrim nimmt sich Zeit für Sanesh?»
«Ich hoffe es. Er ist einer der ältesten Schattenwandler der Gilde. Wenn jemand Sanesh helfen kann, dann er.»
«Du hast ihm auch schon sehr viel geholfen.»
«Ich bin mir nicht sicher. Ich habe ihm gezeigt, wie er seine Energiereserven erneuern kann. Aber damit löste ich vielleicht etwas aus, was ihm und euch gefährlich wird. Du erinnerst dich an das Gewitter?»
Akím nickt. Er wird dieses Erlebnis nicht so schnell vergessen. Obwohl Saneshs Kontrolle seiner Kräfte in den letzten Tagen unter Onishs Anleitung besser wurde, verfolgt dieser beängstigende Eindruck von der Macht des jungen Magiers sie alle in ihren Träumen. Delani erklärte sich nicht zuletzt deshalb einverstanden, Lelai anzulaufen um Onish und Kej abzusetzen. Der junge Schattenwandler versprach, beim Altmeister seiner Gilde ein gutes Wort für Sanesh einzulegen und ihn zu bitten, seine Ausbildung zu übernehmen. Nun hofft Onish, dass Jakrim genauso offen und hilfsbereit ist wie Antim oder Dánan.

Onish | Wattys 2015 GewinnerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt