Onish 1-20 Die Macht des Feuers

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Die Macht des Feuers

Liha steht am Fenster einer leerstehenden Dienstbotenkammer und blickt hinunter in den nächtlichen Park. Der Raum hat den Vorteil, dass er unauffällig über den Hinterhof und eine Außentreppe zu erreichen ist. Liha verdankt diesen Beobachtungsplatz einem alten Freund aus seinen Tagen als Gardist. Dieser erbte vor Jahren das große Haus seines Vaters. Es brauchte nicht viel Überzeugungskraft, den Mann zu überreden, ihm die unbenutzte Dachkammer zu vermieten. Vermutlich nimmt er an, dass Liha sich hier mit einer Geliebten treffen will. Der Berater des Königs und Heerführer von Kelèn schaudert beim Gedanken, was aus diesem einst so stolzen und fähigen Krieger geworden ist. Vielleicht hatte er selber Glück, über kein großes Erbe zu verfügen und immer auf sich allein gestellt zu sein. Obwohl er sich heute eines dieser großen Häuser und eine Schar Angestellter leisten könnte, zieht er sein schlichtes Offiziersquartier über den Ställen des Palastes immer noch vor.
Der Himmel im Osten wird langsam hell und er kann inzwischen die Gestalten unterscheiden, die sich im Park vier Stockwerke unter ihm versammeln. Es sind deutlich mehr Menschen als beim letzten Mal. Der Feuermagier kann einen beängstigenden Erfolg verzeichnen. Liha lässt die morgendlichen Versammlungen von einigen seiner besten Männer beobachten, dankbar für die Distanz und Sicherheit dieses Fensters. Er weiß, dass es gefährlich wäre, jemanden direkt zur Versammlung im Park zu schicken. Der Feuermagier vermag seine Zuhörer in einen fesselnden Bann zu ziehen, dem nur wenige widerstehen können. Pentims Heerführer schließt entschlossen das Fenster, als unten die ersten Töne des rituellen Gesangs erklingen. Er wendet sich an seinen Agenten, der neben ihm an der Wand lehnt. Der Mann ist einer seiner besten Gewährsleute, er bewegt sich unauffällig durch ganz Penira, sammelt Informationen, beobachtet Verdächtige und rapportiert regelmäßig direkt an ihn selbst. Liha mustert das reglose, von tiefen Linien gezeichnete Gesicht des alten Kriegers. Dieser hat schon vieles gesehen und ist absolut zuverlässig.
«Du bist sicher, dass das die gleichen Leute sind, die du vor der Stadt beobachtet hast?»
«Ja, General. Ich habe das per Zufall herausgefunden, als ich dem Magier, sie nenne ihn den Shalen, von seinem Haus aus folgte. Er bewegt sich sehr geschickt und hätte mich beinahe abgeschüttelt. Aber vermutlich war er zu selbstsicher. Ihr Treffpunkt ist gut versteckt, in den Felsen hinter dem alten Bestattungsplatz beim Pentosh. Nur wenige Keleni betreten diese Gebiet.»
Liha kennt den alten Friedhof. Er gilt bei vielen Einwohnern Peniras als verhext und wird heute nur noch selten benutzt, meist von Tannarí oder Menschen aus dem Süden, die an den alten Sitten festhalten und sich nicht von den Geistern ihrer Ahnen fürchten. Bereits Pentims Großvater Kerim ließ einen neuen Bestattungsplatz einrichten, in einer großzügigen Parkanlage im Osten der Stadt. Die meisten Keleni ziehen diesen freundlicheren Ort dem alten Friedhof vor. Liha möchte zu gern wissen, was Hajtasch und seine Anhänger dort treiben. Aber sein Informant weiß nicht viel mehr.
«Ich glaube, dass der Platz magisch geschützt ist. Ich sah den Zauberer zwischen zwei Felsen verschwinden, später kamen andere nach. Als ich mich näher schlich, konnte ich die Stelle nicht finden, wo der Durchgang zwischen den Felsen liegen muss. Ich wartete den ganzen Nachmittag, bis alle wieder herauskamen und suchte dann den Zugang nochmals. In den letzten Tagen war ich noch dreimal dort, erfolglos. Ich kann beobachten, wie die Leute dort ankommen und an einer bestimmten Stelle verschwinden, aber wenn ich näher gehe, sieht alles anders aus und ich finde den Zugang zu dem Versteck nicht. Ich habe es von verschiedenen Seiten versucht. Schließlich gab ich auf, aus Angst, dass sie mich entdecken.»
«Das war vermutlich weise. Wenn der Ort durch einen Zauberbanns geschützt ist, gibt es vielleicht auch einen Alarm. Kannst du mich dorthin bringen?»
«Natürlich, General. Wenn wir sofort aufbrechen, sind wir noch rechtzeitig dort, um sie ankommen zu sehen. ich bin sicher, dass sie irgend etwas vorbereiten. Sie tragen seit Tagen Holz in ihrem Versteck zusammen. Inzwischen reicht es bestimmt für einen Scheiterhaufen.»

~ ~ ~

Hajtash betrachtet zufrieden den großen Holzstoß, den seine Helfer in der Mitte des freien Platzes aufgetürmt haben. Es dauerte lange, aber nun ist alles bereit. Schon bald wird er mächtig genug sein, um ganz auf die widerwillige Fürsprache der Königin verzichten zu können. Er ärgert sich wieder über ihr letztes Gespräch. Er versuchte, Fanlaita davon zu überzeugen, seinem Morgenritual beizuwohnen. Sie hielt aber unbeirrt daran fest, dass es ihre Pflicht sei, am Bett ihres immer noch kranken Sohnes zu wachen. Zudem gezieme es sich für die Gattin des Sonnenkönigs nicht, sich in der Öffentlichkeit ohne ihren Mann sehen zu lassen. All seine Überzeugungskraft half dem Shalen hier nicht weiter. Er war zuletzt sogar versucht, die Königin mit einem Bannspruch zur Teilnahme an dem Ritual zu zwingen. Aber er verzichtete schließlich auf diese drastische Maßnahme. Vermutlich würde es dem König oder einem seiner Berater auffallen, wenn sich die Persönlichkeit der Königin derart deutlich verändern würde. Deshalb bleibt ihm vermutlich nichts anderes übrig, als über Ginadim, den Vater der Königin, subtilen Druck auszuüben. Irgendwann wird er sie soweit haben, dass sie tut, was er von ihr verlangt. Bis dahin kann er mühelos die Krankheit ihres Sohnes verlängern, um ein Druckmittel gegen sie zu besitzen. Hajtash lächelt bitter. Wenn heute alles gut läuft, kann er schon sehr bald sowohl auf Mirim wie auch auf Fanlaita verzichten.
Der Shalen schiebt diese Gedanken für den Moment beiseite und streift sich sein zeremonielles Gewand über. Er krempelt ordentlich die weiten Ärmel hoch und fasst sein langes Messer aus schwarzem, verglastem Stein. Heute ist seine große Stunde, heute wird er es endlich mit dem ersten Teil des Erweckungsrituals versuchen. Heute soll Blut fließen, auch wenn es vorerst nur sein eigenes ist.

Onish | Wattys 2015 GewinnerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt