Onish 3-3 Aufbruch

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Aufbruch

Der alte Schnee bildet einen fest gefrorenen Untergrund, der von einer dünnen Schicht Neuschnee bedeckt wird. Talishas Pfoten finden guten Halt und sinken nicht zu tief ein, so dass sie zügig vorankommt. Mit jedem Schritt wirbelt sie kleine Wolken winziger Schneekristalle auf, die silbern im fahlen Licht des schmalen Mondes glitzern. Die Nacht ist noch jung und sie hat einen langen Weg vor sich.
Es behagt der Wölfin nicht, Onish und Kej zurückzulassen. Aber der junge Wolf hat recht, sie sind nun so nah an Silita-Suan, dass sie es noch heute Nacht erreichen kann. Onish und Kej werden die Nacht unten im Tal verbringen, bevor sie am nächsten Tag den Aufstieg beginnen. Talisha hofft, dass sie zumindest eine warme Unterkunft gefunden haben. Der junge Schattenwandler wäre am liebsten weitergezogen. Er sehnt sich genau wie Talisha nach aktuellen Informationen. Aber Kej war zu erschöpft, um nachts weiterzureiten. Deshalb erklärte die Wölfin sich bereit, den Weg alleine fortzusetzen.
Seit ein Diuneld ihnen vor mehr als einem Mond die Route über einige im Winter begehbare Pässe wies, hatten sie keinen Kontakt mehr mit den scheuen Wesen des Lichts. Talisha behagt es noch weniger, dass in den einsamen Bergen von Eshte auch keine Wesen der Nacht mit ihr in Verbindung traten. Das mag teilweise daran liegen, dass sie ausschließlich tagsüber unterwegs waren und die Nächte wenn möglich in einer Höhle oder an einem anderen gut geschützten Lagerplatz verbrachten. Es ist möglich, dass Boten von Silàn sie in den winterlichen Bergen nicht finden konnten. Trotzdem erscheint ihr das seltsam. Normalerweise kennt das Kommunikationsnetz der Königin der Nacht keine solchen Hindernisse. Nun, vielleicht gibt es auch einfach keine nennenswerten Neuigkeiten. Das muss nicht unbedingt schlecht sein.
Talisha kennt den Weg hinauf zur Burg und genießt es, für einmal in ihrem eigenen Tempo laufen zu können. Der sternklare Himmel ist auch nach dem Untergang der Mondsichel noch hell genug, damit die weiße Wölfin problemlos ihren Weg findet. Sie liebt es, in der Nacht und im Schnee unterwegs zu sein, ein unsichtbarer Schatten in seinem Element. Das ist das Leben, für das sie geboren wurde. Sie hat nur ihren menschlichen Freunden zuliebe in letzter Zeit auf dieses Vergnügen verzichtet.
In diesem Tempo wird sie die abgelegene Burg Silita noch vor Tagesanbruch erreichen. Talisha macht sich keine Sorgen, dass das Burgtor für sie verschlossen sein könnte. Die Hrankaedí werden der Königin ihre Annäherung melden, lange bevor die weiße Wölfin die Burg tatsächlich erreicht. Talisha verzieht ihre schmalen Lippen zu einem Wolfslächeln. Sie freut sich darauf, nach Silita-Suan zurückzukehren und ihre alten Freunde wiederzusehen. Die Burg der Königin der Nacht ist inzwischen fast so etwas wie ein Zuhause für sie.

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Hajtash lässt sich erschöpft in seinen Lieblingssessel fallen. Endlich wieder daheim! Er wirft einen finsteren Blick auf die drei Bediensteten, die ziemlich hilflos im Raum stehen. Natürlich reagieren sie darauf noch verstörter und der Shalen bemüht sich, seine Gesichtszüge zu entspannen und seine Stimme ruhig klingen zu lassen.
«Habt ihr alles für Tejlish getan? Wird er versorgt?»
«Ja, Shalen. Ich habe nach einem Heiler schicken lassen. Er sollte bald hier sein. Inzwischen kümmert sich die Köchin um ihn, sie versucht, ihm heiße Brühe einzuflößen.»
«Gut, ruf mich, sobald der Heiler hier ist. Ich will persönlich mit ihm sprechen.»
«Selbstverständlich, Shalen. Können wir sonst noch etwas für den Shalen tun?»
Hajtash mustert den sichtlich nervösen Mann nachdenklich. Offensichtlich rechnete niemand mit seiner überraschenden Rückkehr. Er fragt sich, weshalb all seine Bediensteten so krampfhaft versuchen, ihre Angst zu verbergen. Irgend etwas muss vorgefallen sein, das sie ihm verheimlichen wollen. Er wird der Sache auf den Grund gehen müssen und zwar bald. Aber zuerst will er sich ein heißes Bad genehmigen, danach eine Rasur, frische Kleidung und ein gutes Essen. Vielleicht gelingt es ihm ja bis dahin, aus einem seiner Männer mehr Informationen herauszuholen.
«Ich möchte baden. Danach brauche ich den Barbier. Und gib in der Küche Bescheid, dass ich eine anständige Mahlzeit wünsche. Nach dem Essen will ich Legnish sprechen, unten im Arbeitszimmer. Das ist für den Moment alles. Bewegt euch!»
Die drei Männer lassen sich das nicht zweimal sagen. Mit auffällig vielen unnötigen Verbeugungen und Beteuerungen, die Aufträge sofort auszuführen, verlassen sie überstürzt den Raum. Hajtash lehnt sich seufzend zurück. Beinahe sehnt er sich nach der Ruhe der Nachtlager in den Bergen von Sellei. Aber nur beinahe. Im Grunde genommen ist er ein Kind der Hauptstadt und wirklich froh, den winterlichen Bergen entflohen und wieder zurück in Penira zu sein.
Hajtash ist gespannt auf Legnishs Bericht. Der Feuermagier, dem er die Stellvertretung während seiner Abwesenheit anvertraute, ist ein gutes Stück jünger als er selbst. Der junge Mann zeigt aber ein vielversprechendes Talent. Hajtash ist sich nach wie vor nicht sicher, welcher seiner beiden Schüler mehr magisches Potential aufweist, die energische junge Frau, Geniri, oder der vergleichsweise ruhige, besonnene Legnish. Die beiden stehen in ständiger Konkurrenz miteinander. Auf jeden Fall fiel ihm die Entscheidung leicht, wen er auf seine Suche mitnehmen und wen er in Penira zurücklassen musste. Geniri hätte ihn schon wegen ihres Geschlechts und wegen ihrer kleineren Statur bei den Morgenritualen nicht ersetzen können. Selbst mit dem besten Verwechslungszauber würde niemand sie jemals für Hajtash halten.

Onish | Wattys 2015 GewinnerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt