Talishas Ehre
In den weiten Wäldern Ataras bricht die Nacht herein. Die letzen Vögel verstummen mit dem schwindenden Tageslicht. Die Tiere des Tages verkriechen sich in ihren Nestern und Bauten, während die Wesen der Nacht den Schlaf abschütteln und ihre Verstecke verlassen. Aus einem Tannendickicht löst sich ein heller Schatten und betritt eine kleine Lichtung zwischen den Bäumen. Hastig flüchten einige Mäuse in ihr Loch. Aber die Jägerin hat im Moment keine Augen für potentielle Beute. Sie schreckte vor kurzem unruhig aus dem Schlaf hoch. Irgendetwas ist nicht, wie es sein sollte. Zwei goldene Augen blinzeln in die zunehmende Dunkelheit. Reglos verharrt die helle Gestalt, während sie ihre Unruhe analysiert. Bereits seit einem halben Mond fühlt es sich an, als gerate die Magie der Welt aus dem Gleichgewicht. Eigentlich sollte sie so etwas nicht wahrnehmen können, aber sie lebte lange in unmittelbarer Nähe zur Magie der Dunkelheit und entwickelte eine Empfindlichkeit für magische Dinge, von der zum Glück nur wenige wissen.
Talisha ist das recht so. Die weiße Wölfin bleibt gerne für sich. Seit sie vor sieben Jahreszyklen unerwartet ihre Freiheit zurückgewann, streift sie gerne allein durch die endlosen Wälder von Atara und Nirah. Ab und zu besucht sie die entlegeneren Gegenden von Eshte und Eshekir. Wenn möglich meidet sie den Norden, die Sumpfebenen des Haon und die dicht besiedelten Gebiete um Penira. Sie bevorzugt das kühlere Klima und die Berge der südlichen Länder. Ihre Freiheit genießt Talisha in vollen Zügen.
Nur an zwei Orte kehrt sie mit einer gewissen Regelmäßigkeit zurück. Der eine ist eine Burg in den Bergen von Eshte, im Hochtal von Silita. Dort lebt die Königin aller Wesen der Nacht, Silàn Silberhaar aus dem Haus von Silita, Silàn-àna-Tanàn. Eine spezielle Freundschaft verbindet die weiße Wölfin mit der Herrin von Silita-Suan.
Der andere Ort liegt in einem versteckten Tal in Atara. Dort lebt ein junger Schattenwandler, mit dem Talisha eine besondere Beziehung pflegt. Onish war noch ein Kind, als der Schattenwandler Antim die Wölfin von dem Bann befreite, der sie an die dunkle Königin Femolai fesselte. Antim verwendete darauf die allerletzte Magie, die er nach seiner Niederlage gegen die dunkle Königin besaß. Er starb daraufhin in den Armen seines jungen Schülers Onish, unter Talishas Augen. Sie fühlt sich seitdem mitverantwortlich für den Tod des alten Meisters. Vielleicht hätte er überlebt, wenn er seine Magie nicht an sie verschwendet hätte? Vielleicht hätten Silàn oder A'shei ihm helfen können, wenn er bis zu ihrem Eintreffen durchgehalten hätte? Niemand machte Talisha je Vorwürfe. Trotzdem empfindet sie ein Gefühl von Verantwortung für Onish. Sie begleitete den Jungen damals auf seiner Reise zurück nach Atara. Wie ein weißer Schatten blieb sie Tag und Nacht an seiner Seite, als er Antims Leichnam zurück ins verborgene Tal brachte. Silàn gab ihnen so viel Magie auf den Weg mit, wie sie vermochte. Sie legte einen Bann über Antims Körper, um die Verwesung zu unterbinden und wob ein Netz von Schutzmagie, das ihnen den Weg erleichterte. Trotzdem waren sie unterwegs mehrfach sowohl auf Onishs aufkeimende Schattenmagie wie auch auf Talishas Orientierungssinn und Jagdgeschick angewiesen. Aus ihrer anfänglich vorsichtig gespannten Beziehung wuchs ein festes Band des Vertrauens, das sich durch nichts erschüttern ließ.
Talishas schwarze Wolfslippen verziehen sich zu einem raubtierhaften Grinsen, als sie an die Wegelagerer denkt, die versuchten, Onish auszurauben. Sie bereuten es rasch, sich mit einer wahren Tochter der Nacht angelegt zu haben. Der junge Onish bewies in jener Nacht, dass er das Zeug zu einem großen Magier besaß. Abgesehen davon lernte die Wölfin am Morgen nach dem gewaltsamen Zusammentreffen seine aufkeimende Heilkunst zu schätzen.
Als Onish schließlich in Dánan eine neue Lehrerin fand, verließ Talisha das Tal in Atara. Zu lange war sie vom Willen anderer abhängig gewesen, zu sehr lockte die Freiheit der Wälder. Ihr junger Freund verstand das. Vermutlich erklärte Silàn ihm die Situation. Trotzdem überdauerte die Freundschaft zwischen den beiden ungleichen Partnern alle Veränderungen der folgenden Jahre. Regelmäßig besuchte die Wölfin Onish, und regelmäßig begleitete ihr junger Freund sie für einige Tage in die Berge. Sie brachte ihm die Grundlagen der Jagdtaktik bei. Onish war ein guter Schüler und verfolgte ihre Lektionen aufmerksam. Beide liebten es, gemeinsam auf einer sonnenbeschienenen Steinplatte die Wärme eines Frühlingsnachmittags zu genießen oder bei Vollmond durch die tief verschneiten Winterwälder zu streifen.
Talisha schüttelt diese Erinnerungen energisch ab, als die Nähe einer Gruppe von Xylin spürt. Sie tritt leise einige Schritte vor, hinaus auf die Lichtung. Bald vernimmt sie das sanfte Glockenläuten, das die leuchtenden Kugeln ankündigt. Die Xylin tauchen zwischen den Bäumen auf der gegenüberliegenden Seite der Lichtung auf und tanzen einen Moment lang über der freien Fläche. Die handtellergroßen, durchscheinenden Kugeln leuchten in allen Farben des Regenbogens. Die weiße Wölfin legt den Kopf zurück und stößt ein langgezogenes Heulen aus. Mit den Xylin unterhält Talisha eine ungewöhnliche Beziehung. Sie gehörten während langer Zeit verfeindeten Seiten an. Seit Silàn von Silita die Wesen der Nacht einte, begegnen sie sich mit Respekt. Die Xylin teilen sich den gleichen Lebensraum mit Talisha. Trotzdem pflegen sie nur selten direkten Kontakt. Talisha will sich deshalb wieder abwenden, als sie in ihren Gedanken deutlich die Stimme einer Xyl vernimmt.
‹Talisha. Xylin grüßen die Tochter der Wälder. Manche Dinge sind nicht, wie sie sein sollten. Unruhe breitet sich aus unter den Wesen der Nacht. Spürt Talisha die Veränderung?›
Die Wölfin blinzelt mit goldenen Augen. Der Besuch der Xylin ist offensichtlich nicht zufällig. Sie formuliert ihre Erwiderung vorsichtig. In letzter Zeit benutzte sie ihre Gedankenstimme nicht oft.
‹Ich grüße euch. Ja, ich habe die Veränderung bemerkt. Kennen die Xylin die Ursache?›
‹Xylin beobachten Kinder der Nacht und Kinder des Lichts. Große Spannung herrscht im Sonnenreich. Wesen der Nacht spüren Unruhe. Dánirah besucht Dánan in Antims Tal. Dánirah bringt Nachrichten und Träume. Onish wird Tal verlassen. Steht Talisha an Onishs Seite?›
Langsam blinzelt die weiße Wölfin. Auch die Xylin scheinen die Ursache der magischen Spannungen nicht zu kennen. Die Nachricht von Dánirahs Besuch ist allerdings wichtig. Talisha ist sicher, dass die Anwesenheit der Wahrträumerin der Tannarí Veränderungen ankündigt. Und sie weiß auch, was das für sie bedeutet.
‹Ich werde auf Onish aufpassen, wie ich es Antim versprochen habe.›
Die Xylin wirbeln durcheinander, bevor die Sprecherin den Faden wieder aufnimmt.
‹Xylin danken Talisha. Xylin tragen Botschaft von Talisha nach Silita-Suan.›
‹Danke, das ist eine gute Idee. Aber ich möchte zuerst herausfinden, weshalb Dánirah das entlegene Atara besucht. Haben die Xylin Geduld, bis ich mit Onish gesprochen habe?›
Die Xyl bestätigt die Bereitschaft, auf Talishas Nachricht zu warten. Daraufhin tanzen die leuchtenden Kugeln mit zufriedenem Glockenläuten zwischen den Bäumen davon. Talisha blickt ihnen nachdenklich hinterher. Dann trabt sie unverzüglich los. Ihr Ziel ist Antims Tal.
Die Ehre gebietet der weißen Wölfin, diese Herausforderung anzunehmen.
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Onish | Wattys 2015 Gewinner
FantasíaDer junge Schattenwandler Onish soll sein abgelegenes Tal verlassen, um in der weißen Stadt Lelai seine Ausbildung abzuschließen. Als er unterwegs der Ausreißerin Kej begegnet, ahnt er nicht, dass das Schicksal ihn und seine neue Bekannte bis ans nö...