Die erste Jagd
Ein eisiger Wind reißt die Wolken über dem Gipfel des Hrantosh auseinander und lässt die goldenen Strahlen der Morgensonne über die Felsen und Schneefelder tanzen. Die fünf Shahraní verlassen ungeduldig ihr Versteck, um die kräftigende Energie der Sonnenstrahlen zu suchen.
Hie stößt zischend eine kleine Rauchwolke aus, ihre neue Fähigkeit. Sie übt fleißig, in der Hoffnung, bald auch Funken produzieren zu können, wie ihre Schwester Sha. Aber heute klappt das noch nicht. Stattdessen legt Hie ihre purpurfarbenen Flügel an und lässt sich in eine der heißen Dampfwolken fallen, die aus dem Hauptkrater des Drachenbergs aufsteigen. Inzwischen beherrscht sie das Fliegen genauso gut wie ihre älteren Geschwister und wird übermütig. Ihr quirliger Bruder Dri verfolgt sie in ihrem Sturzflug und gemeinsam ziehen die beiden jungen Drachen ihre Flugbahn über einem in der Sonne glitzernden Schneefeld steil nach oben. Im Steigflug gelangen sie Seite an Seite in einer eleganten Schleife zurück zum Ausgangspunkt. Fröhlich blinzeln sie sich mit schräg geschlitzten Augen an, bevor sie den Sturzflug ein weiteres Mal wiederholen. Bevor sie aber eine dritte Runde drehen können, ruft ein energischer Schrei ihres ältesten Bruders sie und die anderen Shahraní zusammen. Hie und Dri gesellen sich mit strahlenden Augen zu den Geschwistern, immer noch gefangen in der Begeisterung des Fliegens. Haj, der Älteste, kann den beiden nicht böse sein. Aber ihre goldgefleckte älteste Schwester Eld wird seit Tagen immer mürrischer und ungeduldiger. Sie hat Hunger und möchte endlich diese Schnee- und Felswüste verlassen, um nach neuer Nahrung zu suchen. Haj sieht sich nun gezwungen, ihr Recht zu geben. Mit einigen ungeduldigen Schlägen seiner orangeroten Flügel treibt er seine Geschwister zusammen und übernimmt entschlossen die Führung. Er fühlt sich für die anderen verantwortlich. Noch hält die Energie an, die sie aus dem Verzehr der Eierschalen und den Strahlen der Sonne gewinnen konnten. Wenn sie aber nicht bald zusätzliche Nahrung finden, werden ihre Kräfte allmählich nachlassen. Deshalb ist Haj bereit, die Sicherheit ihres Geburtsorts zu verlassen.
In immer größer werdenden Kreisen gleiten die Shahraní um den Gipfel des Hrantosh, neugierig und gleichzeitig auf der Suche nach Nahrung. Haj wirft einen abwägenden Blick hinüber zu den beiden jüngsten, Sha und Hie. Aber seine Sorge ist unbegründet. Die beiden mögen etwas kleiner sein und länger gebraucht haben, um die Schale ihrer Eier zu knacken, im Fliegen stehen sie den älteren Geschwistern aber nicht mehr nach.
Haj wendet sich wieder der selbstgestellten Aufgabe zu, Nahrung für sich und seine Geschwister zu finden. Plötzlich erkennt er tief unter sich eine flüchtige Bewegung im Schnee. In diesem Moment ist alles andere vergessen. Der neu erwachte Jagdinstinkt des ältesten Feuerdrachen lässt keinen Raum für ablenkende Gedanken. Zielsicher setzt Haj zum Sturzflug an, gefolgt von seinen vier hungrigen Geschwistern.~ ~ ~
Seit Tanàn vor einigen Tagen zum ersten Mal die Shahraní beobachtete, hält tagsüber stets jemand im obersten Burghof Wache. Ranoz und Noak sind überzeugt, dass die jungen Feuerdrachen bald die Sicherheit verlassen werden, die ihnen der Gipfel des Hrantosh bietet. Die Hrankaedí haben allerdings keine Möglichkeit, die Shahraní tagsüber zu beobachten und nachts ließen sie sich bisher nicht blicken. Silàn setzte vorletzte Nacht einen magischen Ruf an die Xylin ab, in der Hoffnung, die leuchtenden Kugeln könnten mit den jungen Drachen in Kontakt treten. Aber bisher folgten die Xylin ihrer Bitte nicht.
Onish betritt in Begleitung von A'shei den Hof, um Kej auf dem Beobachtungsposten abzulösen. Überrascht stellt er fest, dass sie nicht allein ist. Neben ihr auf der Hofmauer sitzt ein blonder Mann in einem warmen Soldatenmantel. Die beiden unterhalten sich angeregt. Onish bleibt unvermittelt stehen und A'shei wirft ihm einen erstaunten Blick zu.
«Das ist Steim, ein alter Freund aus Penira. Liha schickte ihn mit einer Botschaft zu uns. Er wird deiner Kej bestimmt nichts antun.»
«Sie ist nicht meine Kej. Und ich habe Steim und Raill bereits gestern Nachmittag kennengelernt.»
Onish senkt seine Stimme zu einem Flüstern. Trotzdem hört ihn Kej und wendet sich zu ihm um.
«Onish, gut, dass du kommst. Es wird langsam kalt hier draußen.»
«Du kannst dich jetzt aufwärmen. Hamain hält in der Küche eine warme Suppe bereit. Was machen die Shahraní?»
«Sie kreisen um den Berg, wie immer. Wir haben nichts Neues entdeckt.»
Sie klettert steif von der Mauer und lässt sich von Steim dabei helfen. Onish runzelt darüber die Stirn, ohne etwas zu sagen. Hätte er versucht, ihr Hilfe anzubieten, hätte sie bestimmt verärgert reagiert. A'shei legt ihm beschwichtigend eine Hand auf den Arm. Kej und Steim verlassen zusammen den Hof. Onish kann schon wieder ihr fröhliches Lachen hören. Er schüttelt A'sheis Hand ab und klettert auf die Mauerkrone, um seinen Beobachtungsposten einzunehmen. Der Tanna lässt sich mit einem Seufzen neben ihm nieder.
«Du solltest ihr nicht böse sein. Vermutlich genießt sie nur die Aufmerksamkeit. Ich bin sicher, dass sie dich nicht verletzen will.»
«Ich weiß. Sie kann selber entscheiden, mit wem sie ihre Zeit verbringen will. Wir haben uns zufällig getroffen und sie wird früher oder später ihre eigenen Wege gehen. Vielleicht ist es Zeit, dass wir uns trennen. Ich kann ihr ohnehin nichts mehr beibringen. Ihre Magie ist so völlig anders als meine, dass es von vornherein eine schlechte Idee war, sie als Schülerin anzunehmen.»
A'shei antwortet nicht sofort. Nachdenklich beobachtet er die fünf winzigen Punkte, die den Gipfel des Hrantosh umkreisen. Ihre Kreise werden allmählich größer. Schließlich wendet er sich wieder dem jungen Schattenwandler zu.
«Ich glaube, dass es eine gute Idee war, ihre Ausbildung zu übernehmen. Wer hätte ihr sonst helfen können? Und nach deiner Erzählung hat sie durch ihre Kommunikation entscheidend dazu beigetragen, den Shalen in die Irre zu führen. Ich glaube auch nicht, dass deine oder ihre Aufgabe schon abgeschlossen ist. Silàn ist sich sicher, dass wir noch mehr von diesem Feuermagier hören werden. Ich stimme ihr da zu. Und ich denke, dass ihr ein gutes Team bildet, Kej und du.»
«Nun, du magst Recht haben oder nicht. Manchmal wäre ich froh, wenn sie endlich ihren eigenen Weg gehen würde. Aber vermutlich würde ich nach kürzester Zeit ihre schroffe Art vermissen. Glaubst du, dass wir eine Möglichkeit finden, mit den Shahraní in Kontakt zu treten?»
«Ich hoffe es. Ich hoffe, dass Kej uns dabei helfen kann. Ihre Fähigkeiten sind wirklich außergewöhnlich. Aber zuerst müssen die Shahraní in unsere Nähe kommen. Wie wir das erreichen sollen, ist mir unklar.»
«Vielleicht könnte Talisha sich ihnen nähern? Oder die Xylin, wie Silàn vorgeschlagen hat?»
«Am ehesten die Xylin ... Sieh mal!»
Gespannt beobachten die beiden Schattenwandler, wie die Shahraní sich plötzlich alle gleichzeitig fallen lassen und einem bestimmten Punkt im Schnee zustreben. Sowohl A'shei wie auch Onish sind in den Bergen aufgewachsen und kennen das Verhalten von Raubvögeln auf der Jagd. A'shei spricht aus, was beide denken.
«Sie beginnen zu jagen. Das wird früher oder später zu Problemen führen.»
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Onish | Wattys 2015 Gewinner
FantasyDer junge Schattenwandler Onish soll sein abgelegenes Tal verlassen, um in der weißen Stadt Lelai seine Ausbildung abzuschließen. Als er unterwegs der Ausreißerin Kej begegnet, ahnt er nicht, dass das Schicksal ihn und seine neue Bekannte bis ans nö...