Onish 3-11 Gefangen

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Gefangen

Liha betrachtet die Spuren, die in die Grasebene hinausführen. Hajtash hat diesmal keine Wagen dabei und ist deutlich schneller unterwegs. Liha folgt ihm unermüdlich mit einer Gruppe seiner besten Krieger und den beiden zuverlässigsten Fährtenlesern, die er in Penira finden konnte. Er bedauert, diesmal auf Berims Begleitung verzichten zu müssen. Obwohl er selbst ihn für die wichtige Aufgabe vorschlug, die Königin und ihre Kinder in Sicherheit zu bringen, fühlt er sich ohne seinen Freund für die bevorstehende Aufgabe nicht richtig gewappnet.
Er lächelt den beiden Fährtenlesern zu, als er sich in den Sattel schwingt. Die beiden leisteten bisher trotz der Befürchtungen ihres Kommandanten gute Arbeit. Es ist noch früh, die Spuren im taufeuchten Grass sind im dämmrigen Morgenlicht gerade erst sichtbar. Der Feuermagier hat etwa einen halben Tagesritt Vorsprung. Liha weiß, dass sie ihn bald einholen, wenn sie ihr Tempo beibehalten. Aber er ist sich nicht sicher, ob er das will. Es ist fraglich, ob zwei Dutzend Krieger dem Shalen gewachsen sind. Vielleicht hatte Duwish recht, als er von Hajtashs Verfolgung abriet? Andererseits erwies es sich beim letzten Mal als richtig, den Magier zu verfolgen. Dies ist vermutlich der Grund, warum sich Pentim und der alte Katim mit seinem Plan einverstanden erklärten und sich auf Lihas Gefühl und das Schicksal zu verlassen.
Er gibt seinen Kriegern das Zeichen zum Aufbruch. Während er sein Pferd antreibt, fragt sich der oberste Heerführer von Kelèn, wo seine jungen Freunde Onish und Kej in diesem Moment wohl stecken. Ob sie Silita-Suan erreicht haben? Was wohl mit den Dracheneiern geschehen ist? Liha wünscht sich wieder einmal, er hätte ein zuverlässiges Mittel, um seine potentiellen Verbündeten zu kontaktieren. Wenn er zumindest ein Diuneld als Führer hätte!

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Sanesh reibt sich den Schlaf aus den Augen, zieht die Decke hoch und genießt einen Moment lang die Wärme seines Betts. Durchs Fenster betrachtet er den Morgenhimmel. Die Sonne ist noch nicht über den Horizont gestiegen. Vermutlich wird sie heute nicht gleich zu sehen sein, der Himmel ist wolkenverhangen. Was Meister Jakrim wohl heute für ihn plant? Seit einigen Tagen lässt er seinen Schüler gelegentlich mit Wettermagie arbeiten. Sanesh weiß inzwischen, wie gefährlich das ist. Deshalb verwendet er sie sorgsam und hält sich streng an die Regeln, die der Meister ihm auferlegt. Oft fällt ihm das schwer. Seit er seine Begabung kennt, möchte er sie einmal richtig ausprobieren, einen riesigen Sturm heraufbeschwören und seine Magie austoben.
Sanesh schiebt diese unerlaubten Gedanken beiseite und steht auf. Er zieht sich an und öffnet das Fenster. Inzwischen werden die Nächte hier im Norden deutlich wärmer, bald kommt der ersehnte Frühling. Er blickt hinunter in den Garten, wo die ersten Bäume bereits grüne Blattspitzen zeigen. Besonders fasziniert ihn ein Baum, der beginnt, seine prächtigen rosaroten Blüten zu öffnen. Der Junge stellt sich auf die Zehenspitzen und lehnt sich aus dem Fenster, aber der schöne Baum ist von hier aus nicht sichtbar. Als er sich aufrichtet, fällt Saneshs Blick auf eine schwarze Krähe, die über seinem Fenster Kreise zieht. Er glaubt, diesen Vogel in letzter Zeit wiederholt gesehen zu haben. Aber vielleicht täuscht er sich, eine Krähe sieht aus wie jede andere.
Er schließt das Fenster, es wird Zeit hinunter zu Jakrims zu gehen. Auf dem Tisch neben dem Bett steht ein Teller mit Krümeln des Kuchens, den es am Vorabend zum Nachtisch gab. Sanesh will die Kuchenkrümel gerade wegschütten, als ihm eine Idee kommt. Sorgfältig sammelt er die Brösel in einer Hand. Mit der anderen öffnet er das Fenster wieder und streckt sie auf der Handfläche der Krähe entgegen. Der neugierige Vogel kommt kreisend näher. Zweimal setzt er an, mit dem Schnabel im Vorbeifliegen einen Krümel aufzupicken. Beide Male zieht Sanesh die Hand ängstlich zurück. Der Vogel beschwert sich laut krächzend. Bevor der Junge es sich anders überlegen kann, landet die Krähe beim nächsten Anflug auf seinem Unterarm und umklammert diesen fest mit ihren Krallen. Sie wirft dem jungen Magier aus glänzend schwarzen Augen einen triumphierenden Blick zu, bevor sie vorsichtig und ohne ihn zu verletzen die Krümel aus seiner Hand aufpickt.

Onish | Wattys 2015 GewinnerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt