26. Kapitel

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Zart schien das immer heller werdende Licht der grossen Sonne über die Erde und erhellte somit auch die Felswände hoch im Norden. Die Frau wich einen Satz zurück, als das helle Licht die Höhlenöffnung hoch oben in der Steinwand erreichte und verzog ihre Miene.

Verflucht sollte die grosse goldene Kugel sein, die sich immer wieder dazu entschied, erneut aufzuerstehen und den Tag einzuläuten. Sie hasste die Sonne. Sie hasste sie.

Flink schlängelte sie sich tiefer in die dunklen, kalten Höhlengänge hinein, während sie das Geräusch von Schuppen auf rauem Gestein verfolgte. Ihr Sohn hatte ihr gestern Abend keine Gesellschaft geleistet, sowie auch jetzt nicht. Was jedoch nicht weiter schlimm war, er hatte eine Aufgabe zu erledigen.

Sie wand sich weiter in die düsteren Gänge, deren Steinwände feucht und nass waren, bis sie rechts abbog und auf den Altar zusteuerte. Sie brauchte kein Licht, um die genauen Umrisse des Steintisches, oder des darauf platzierten Kupferkelches auszumachen – ihre Reptilaugen sahen in der Dunkelheit viel besser als bei Tag.

Sie ignorierte das Klirren der Ketten im Hintergrund, oder die vielen Rufe und Schreie – erbärmliche Narren, allesamt. Am Altar angekommen, krallte sich ihre knochige, bleiche Hand, deren feine Schuppen bei jeder Bewegung glänzten, um das Heft der kleinen, jedoch äusserst scharfen Klinge und sie schnitt sich in die Handfläche. Schwarzes Blut tropfte aus der Wunde, als sie ihre Faust fest zusammengepresst über dem Kupferkelch hielt. Sobald er genug voll war, drehte sie sich um, den Kelch fest in der Hand.

»Na, wer will der Erste sein?« fragte sie trocken, und blickte auf die duzenden Lebewesen vor ihr, deren Gelenke Silberfesseln schmückten und sie gefangen hielten. Einige von ihnen brüllten ihr schmutzige Beleidigungen an den Kopf, andere drohten ihr mit unsäglichen Qualen und einige weinten sogar. Sie seufzte. Sobald sie sie zurecht geformt hatte, und tief in ihre Seele gekrochen wäre, würde sie dieses schwache Verhalten ausmerzen, versprach sie sich.

»Gut, dann entscheide wohl ich.« Damit geleitete sie zu dem ersten Angeketteten, und ihre schwarzen spitzigen Krallen gruben sich in sein Kinn. »Trink.« befahl sie, ehe sie den Kelch an seine Lippen presste und ihn zwang, den Mund zu öffnen. Nach mehreren trostlosen Versuchen, sich zu wehren, liess er ihr Einlass und die schwarze Flüssigkeit floss in seinen Mund. Nun lächelte. »Sehr gut.« flüsterte sie und ihre Augen schimmerten voller Vorfreude, als der Gikrieger gegen die Steinwand taumelte und seine Augen sich nach hinten rollten.

Und als er sie später, wie alle anderen Angeketteten in der Zelle tief unter der Erde, aus leeren Augen ansah, vergrösserte sich ihr Lächeln. Mehrere dutzend Seelen waren an die ihre gekettet. Und das war erst der Anfang. Denn ihr geliebter Dijun würde ihr jemand bringen, der ihr ein ganzes Land opfern würde. Er würde ihr den König bringen. Und damit sein ganzes Königreich – es würde alles ihr gehören.


X E N O S | ✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt