X E N O S | ✔️

27. Kapitel

A R Y A

➳

Wie konnte es sein, dass ich in den ganzen Tagen, die ich hier auf dem Moonwater-Pack verbracht hatte, noch nie hier war? Ein frischer Lufthauch, die warmen Sonnenstrahlen, die durch das Blätterbaldachin des Pavillons durchdrangen und jede Stelle meiner Haut wärmten, ausserdem die traumhafte Aussicht auf die dichte Waldgrenze des Nadelwalds, die direkt an den Trainingsplatz des königlichen Anwesens angrenzte.

Ich verzog meine Lippen zu einem Lächeln, während ich das Kampfgetue auf dem Platz verfolgte und das Geräusch von Klingen auf Klingen genoss, das von den trainierenden Werwölfen zu mir drang – hier war definitiv mein Lieblingsort. Es erinnerte mich an den Kampfplatz zu Hause. Die eingetretene staubige Lehmerde, die aufgelisteten verschiedenen Waffen. Etliche Male hatten Rowtag und ich uns gegenseitig herausgefordert, um herauszufinden, wer der Bessere war. Natürlich war immer ich als Siegerin herausgekommen, dennoch hatte diese Tatsache nie unserer Freundschaft geschadet – wir waren beste Freunde, unzertrennlich. Wir sind beste Freunde, verbesserte ich mich rasch und ignorierte den Stich in meinem Herzen. Es nützte nichts, um meinen Stamm zu trauern, sagte ich mir selbst. Denn Moonwater war nun meine Heimat. Genau.

Meine Hände krampften um die steinerne, verschnörkelte Pavillonbrüstung und ich versuchte mich abzulenken, indem ich die einzige Person auf dem Trainingsplatz suchte, die mir nicht vollkommen fremd war. Abermals erschien ein Lächeln auf meinem Mund, als ich den Blondschopf in dem ganzen Getümmel entdeckte, der wie immer aufrecht und felsenfest dastand und mit seinem scharfen Blick die jungen Soldaten auf ihre Fehler hinwies.

Er unterschied sich so sehr von meinem Vater. Obwohl er den Stand eines Königs bekleidete, war er sich nicht zu schade, selbst die Arbeit zu verrichten und seinen Rudelmitglieder als Freund und Vertrauter zur Seite zu stehen. Er war ehrenvoller als jeder andere Häuptling, der mir jemals unter die Augen gekommen war. Aee, Xenos war ehrenvoll – ehrenvoll und gerecht. Und noch so viel mehr als das.

Mein Herz trommelte wie auf Knopfdruck gegen meinen Brustkorb, als ich an die vergangene Nacht dachte. Zu erfahren, dass wir Mates waren, hatte uns beide aus der Bahn geworfen und jegliche Mauern und Schilde zunichte gemacht, die uns daran gehindert hatten, uns näher zu kommen. Und heilige Gaia, wir waren uns deutlich nähergekommen; keine einzige Sekunde hatten wir gestern Nacht, oder vielmehr heute Morgen, Schlaf gefunden. Stattdessen waren seine Hände ununterbrochen über meinen Körper gewandet – hatten Dinge mit ihm angestellt, von denen ich nicht einmal gewusst hatte, was sie in mir auslösen konnten. Und grundgütiger dieser Mund! Bei Gaias Wille, ich war immer noch komplett wund, und das heisse Verlangen schoss durch mich hindurch, bei dem blossen Gedanken daran.

Als hätte er meine Gedanken gelesen – oder vielmehr meine Erregung gerochen – schwenkte sein Kopf zu mir und sein glühender Blick fand direkt den meinen. Es war, als könnte ich seine leidenschaftlichen Gefühle über das Band spüren, als würden sie mich über die Ferne erreichen. Heftig pulsierte der feine Faden zwischen uns, drängte uns, den Abstand zu vernichten und uns aneinander zu schmiegen. Und aee, ich wollte nichts lieber als das.

Im gleichen Augenblick, rannte Aramis über das Feld und rief lautstark: »Hey, Arsch mit Ohren, begrüss deinen Freund aufrichtig!«

Xenos wandte sich dem dunklen Lockenschopf zu, um seinen zwei Jahrtausend lang befreundeten Freund in eine enge brüderliche Umarmung zu schliessen, die aus Rückenklopfen und Gegröle bestand.

Wenn Aramis da war, dann musste...

»Arya!«

Kaum hatte ich mich vom Geländer weggedreht, warf sich Zaira auch schon in meine Arme. Etwas überrascht kam ich der liebevollen Umarmung nach und legte zögerlich meine Arme um ihren Oberkörper. Ich war das hier nicht gewohnt – Xenos war der Einzige, der mich so berührte. Rowtag und ich hatten uns eigentlich nie umarmten und ich konnte mich nicht an das letzte Mal erinnern, dass es mein Vater getan hätte.