48. Kapitel

3.5K 176 81
                                    







A R Y A







Das Kleid, das Joy mir geschenkt hat, war wunderschön. Der bordeauxrote Stoff schmiegte sich wie die feinste Seide Semeeras an meinem Körper und schickte meine Hände dazu an, immer wieder über ihn zu fahren. Der Rock, der sich um meine Beine bauschte, reichte bis zum Boden und ich musste ihn anheben, damit ich die Treppen so elegant wie möglich herunterschreiten konnte, ohne gleich hinzufallen. Schliesslich machten mir die hohen Absätze meiner feinen Ballschuhe schon genug Probleme.

Ich hatte heute Abend meine Zöpfe aufgeknöpft, damit ich meine Haare zu einer hübschen Hochsteckfrisur gestalten konnte und der leichte Windhauch, der nun über meinen Nacken wehte, war mir neu. Alles an mir war mir neu. Meine nackte, unbemalte Haut, meine hochgesteckten Haare, das elegante Kleid, die Schuhe, sogar die schlichtgehaltene Schminke auf meinem Gesicht fühlte sich unbekannt an.

Ich schob das mulmige Gefühl in meiner Magengrube zurück. Dann musste ich mich eben neu erfinden, na und? Nicht weiter schlimm. Ich war immer noch nicht in die Schlucht gefallen, die Brücke war zwar wackelig, doch sie hielt.

Das Streichquartett erfüllte den riesigen Ballsaal vor mir, hüllte die quatschende Menge von Werwölfen des ganzen Königreiches ein und all meine betrübenden Gedanken flogen dahin, als ich ihn am Ende der Treppe sichtete.

»Du siehst bezaubernd aus.« Sein Tonfall klang kühl und berechnend, so, als würde er über etwas Geschäftliches sprechen.

Stirnrunzelnd trat ich neben ihn, bemüht, mein Gleichgewicht auf diesen wackeligen Schuhen zu halten. Er hatte sich einen schwarzen, eleganten Smoking angelegt, mit einer dazu passenden Krawatte. Heiss, sexy und unwiderstehlich, mit diesen meeresblauen Augen und dieser goldenen Krone, die im Licht der vielen Kronleuchtern des Ballsaals funkelte.

Doch er war anders, nicht wie mein Xenos. Er wirkte kühl, distanziert und abwesend. So, als würden er gänzlich in seinen Gedanken stecken und sich nicht bewusst hier aufhalten. Was natürlich alles Schwachsinn war.

»Das Kompliment gebe ich nur gerne zurück.« Ich krallte meine Hände in mein Kleid, um ihn nicht zu mir zu ziehen. Er war mir so nahe, dass ich selbst, ohne ihn zu berühren, die Wärme, die sein Körper versprühte, fühlen konnte und mir wurde gleichzeitig heiss und kalt. Ich wollte mich an ihn pressen, seine nackte Haut streicheln und diesen herrlichen Mund küssen. Mich in seinem Geruch tunken und ihn tief in mir spüren. Gott, ich hatte das Gefühl, dass es schon ewig her war, seit er mich an sich gezogen hatte. Seit er mein Kinn gepackt hatte und mich hart und fordernd geküsst hatte. Seine Zunge an meiner. Sein Mund auf meiner Haut, saugend und beissend, bis jeder einzige Teil meines Körpers von ihm gekennzeichnet war.

Und nun? Nun schaute er mich nicht einmal mehr richtig an. Redete nicht mit mir. Berührte mich nicht. Der Fleck an meinem Nacken schwellte schon langsam ab, und die blaugrünliche Verfärbung war schon fast nicht mehr zu erkennen. Es war, als würden seine Hände nie auf meinem Körper gewesen sein, als hätte sein Mund nie Bekanntschaft mit meiner Haut gemacht. Als hätte ich nie ihm gehört.

Und obwohl ich es immer ein wenig befremdlich und animalisch gefunden hatte, fehlte es mir jetzt. Ich fühlte mich hohl, als würde mein Leben aus Nichts bestehen.

»Etwas fehlt noch.« sagte er dann und katapultierte mich aus meinem Wirrwarr von Gedanken. Nachdem er jemanden hergewinkt hatte, hob er sachte das Diadem von dem Kissen und legte sie auf meinen Kopf. 

Ich schien vergessen zu haben, wie man atmet und für einen Bruchteil einer Sekunde schaute er mich an. Direkt in die Augen. Die Zeit schien stillzuhalten und ich suchte nach ihm, suchte nach dem liebevollen, zärtlichen Blick, den er nur mir vorbehalten hatte.

X E N O S | ✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt