58. Kapitel

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A R Y A







Ich konnte ihn einfach nur anstarren. Keine einzige Silbe drang über meinen Mund, während ich hier stand und er sich am anderen Ende der Höhle befand, wo er Sekunden zuvor noch zuckend am Boden gelegen hatte.

Es fühlte sich eher so an, als läge nicht der Steinaltar, sondern ganze Welten zwischen uns, eine Schucht, die unüberbrückbar war. So viele ungesagte Dinge standen zwischen uns. So viele Dinge, die geschehen waren, von denen ich jedoch nicht wusste, wie ich sie zu interpretieren hatte.

Mein Herz schlug mir bis in den Hals, währen ich fieberhaft probierte herauszufinden, wohin mit meinen Händen und meinem Blick. Seine Augen durften es nicht sein - diese traumhaft schönen, ausdrucksstarken Augen, in denen ich mich verlieren konnte. Auch nicht dieses harte, männliche Gesicht, in das einzelne blondbraune Haarsträhnen sich verloren hatten und mein Zutun benötigten, um sie sachte wegzuwischen. Alles in mir drängte mich schmerzhaft dazu, dieser inneren Begierde nachzugehen, doch ich war nicht im Stande einen Fuss vor den anderen setzen, konnte nicht einmal richtig atmen.

Er war der Erste, der etwas sagte. »Sag mir, wie ich's wiedergutmachen kann. Sag mir, dass du weisst, dass ich nichts von all dem wollte.«

Ich starrte auf meine ringenden Hände.

»Arya...« er stöhnte gereizt auf und dann hörte ich schnelle Schritte.

Leicht hob ich meinen Blick, gerade so weit, dass ich sah, wie er aufgeregt hin und her lief und sich die Haare raufte.

»Sie hat Dinge in mir gemacht, ich...«

Meine Hände krallten sich in den Seidenstoff meines Kleides. Echinda war tot, sie kontrollierte niemanden mehr, spreizte ihre Tentakel in niemandes Geiste mehr aus, dennoch waren die Spuren, die ihre Einflussnahme erfordert hatte, so präsent, als surrten die grellen, verätzenden Blitze immer noch durch meine Glieder.

Ich biss die Zähne zusammen, hob meinen Kopf und stellte die Frage, die alles zu ändern vermochte. »Wie viel davon war deine Entscheidung?«

Er hielt in seinem aufgeregten Gelaufe an. Seine Fäuste öffneten und schlossen sich wieder, als er knurrend von sich gab: »Ich hätte dich nie stehen gelassen, hätte dich nie einfach alleine gelassen - mitten in der Nacht.«

Seine Fangzähne fuhren aus und seine Augen leuchteten auf, bei der Wut, die in ihm aufschäumte. Eine Wut, von der ich wusste, dass sie nicht gegen mich, sondern gegen sich selbst gerichtete war. Wieso ich keine Zweifel hegte? Seine Fäuste, die nicht zu zittern aufhörten, waren bereits rot, völlig durchnässt von seinem eigenen Blut, das aus seinen Handflächen strömte. Er hatte seine Krallen ausgefahren und verletzte sich selbst.

»Ich hätte mit dir trainiert, ich hätte dich zu deinem Stamm begleitet. Ich wäre für dich da gewesen, wenn du mich gebraucht hättest. Ich hätte dich nie in die Gruft gesperrt.« Hell brennende Augen, die nun auf mein Kinn, das sich sicherlich schon grünblau verfärbt hatte, starrten. Dann folgte ein lautes Knacken, als er seine Zähne hart aufeinander drosch. »Und bei allen Göttern, ich hätte dich nie geschlagen.«

Ich wäre fast auf ihn zu gerannt. Hätte mich um ein Haar an seinen Hals geworfen und seine Hände an mich gezogen. Wünschte mir, dieses Blut aus seinen Händen zu wischen und ihn davon aufzuhalten, sich selbst so sehr weh zu tun. Wusste er denn nicht, dass dieser Mann hier mir heilig war? Das ihn niemand verletzen durfte, nicht einmal er selbst?

Doch die kühle, vernünftige Stimme, die mich noch einigermassen aufrechterhielt, hinderte mich daran, im genau das zu beweisen.

»Das war also alles sie?« wisperte ich leise, fast schon in der Hoffnung, dass er mich nicht gehört hatte und mir somit eine Antwort ersparen würde. Ein Teil von mir weigerte sich, direkt in das Auge der Wahrheit zu spähen, wollte sich lieber zurückziehen und von der unvermeidlichen Offenbarung verkriechen.

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