Kapitel 34

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Die nächsten Wochen und Monate waren extrem anstrengend für mich. Meine Eltern sorgten nur noch mehr dafür, dass ich Daniele regelmäßig sah, indem sie so oft wie möglich zu uns einluden und mir keine wirkliche Gelegenheit gaben, ihm auszuweichen. Der Kontakt zu meinem besten Freund lief nur noch über Briefe, die ich meinem Bruder heimlich zusteckte. Obwohl Gabriel immer wieder versuchte, meine Eltern zu überreden, mich zumindest mit ihm nach Köln fahren zu lassen, blieben sie unerbittlich. Mein Vater war nicht dumm und erlaubte mir weder meinen Bruder zu besuchen noch etwas mit ihm zu unternehmen, denn er wollte mir keine Gelegenheit geben, so etwas wie Dortmund noch einmal zu wiederholen. Stattdessen durften wir uns nur bei meinen Eltern Zuhause treffen. In den ersten Wochen unterband er sogar Gabriels Besuche bei mir Zuhause - aus Wut und um mir keine Möglichkeit zu geben, noch einmal so etwas wie Dortmund zu unternehmen. Ich fühlte mich immer mehr in einem Gefängnis, ohne die  Möglichkeit auszubrechen. Oft saßen Gabriel und ich in meinem Zimmer und überlegten hin und her, was wir jetzt tun konnten, denn auch er merkte, wie sehr ich unter den noch strenger gewordenen Maßnahmen meines Vaters litt, denn jetzt durfte ich ohne Daniele gar nichts mehr unternehmen.
Daniele genoß seine Machtposition immer mehr und bestimmte auch darüber, ob ich meine Freundinnen sehen durfte. Ich hatte keine Chance, ihn zu überreden, einfach zu sagen, dass wir etwas gemeinsam unternahmen, denn Daniele hatte viel zu viel Spaß dabei, über mich zu verfügen. Nur manchmal war er so nett, dass ich mich mit meinen Freundinnen irgendwo treffen durfte - und dann klebte er so sehr an mir, dass ich kaum atmen konnte. Wenn ich mich beschwerte, drohte er, dass er meinem Vater alles erzählen würde, denn er wusste, dass mein Vater voll und ganz auf seiner Seite war. Nach der Sache mit Dortmund war er nur noch eifersüchtiger und hatte mir eine entsetzliche Szene gemacht, in der er mir vorgeworfen hatte, in Wahrheit bei Paddy gewesen zu sein, auch wenn ich das verneinte. Claire, die Daniele ohnehin nicht ausstehen konnte, war längst tierisch genervt davon, dass er ständig an meiner Seite war und versuchte immer wieder mit mir allein zu reden. Aber ich war meinem Freund voll und ganz ausgeliefert. Hin und wieder sah ich Jimmy, der jetzt fest mit Claire zusammen war und in kurzen unbeobachteten Momenten überbrachte er mir kleine Botschaften oder Briefe von seinen Geschwistern - etwa wenn Daniele auf der Toilette war. Das waren jedes Mal kleine Lichtpunkte für mich, die mir die Kraft gaben weiterzumachen, auch wenn ich eigentlich nicht mehr konnte. Aber für meinen besten Freund wollte ich stark bleiben. Immer wenn es mir besonders schlecht ging, hörte ich Paddys Mixtapes und es ging mir etwas besser.

Ich aß fast nichts mehr und verkroch mich Zuhause nur noch in meinem Zimmer, um meinen Eltern nicht zu begegnen. Stattdessen versuchte ich mich aufs Lernen zu fokussieren, auch wenn ich mich nur schwer konzentrieren konnte. Nachts schlief ich kaum noch und fühlte mich bald wie ein Zombie. Nur der Gedanke an Paddy und die Kassetten hielten mich noch irgendwie aufrecht. Ich wusste, dass er ständig an mich dachte und am liebsten auch selbst vorbeigekommen wäre, aber das war viel zu gefährlich. Wenn er Daniele begegnete, würde mein Freund nur durchdrehen und meine Probleme würden nur noch größer. Das sah auch Paddy ein, auch wenn es ihm wahnsinnig schwer fiel und er mich am liebsten einfach abgeholt hätte. Das war eine der Möglichkeiten, die ich mit Gabriel ebenfalls beredet hatte - dass ich einfach zu den Kellys gehen sollte. Aber das war genau so unmöglich, wie bei meinem Bruder einzuziehen oder eine eigene Wohnung zu beziehen. Ich konnte unmöglich ständig mit den Kellys reisen und auch nicht auf dem Hausboot bleiben. Außerdem wollte ich unbedingt mein Abi durchziehen und ein Schulwechsel war ziemlich schwierig - gerade so relativ kurz vor dem Abitur. Und für eine eigene Wohnung war ich leider noch ein wenig zu jung und meine Eltern hätten niemals zugestimmt. Aber ich hielt mich damit aufrecht, dass ich in ein paar Monaten endlich volljährig war. Dann wollte ich zu meinem Bruder nach Bochum ziehen und von dort aus jeden Tag zur Schule fahren - auch wenn das mit dem Auto jeden Tag eine Fahrtzeit von knapp einer Stunde pro Strecke bedeutete.
Aber das war mir meine Freiheit wert. Ich wollte bald den Führerschein starten, um ihn pünktlich zu meinem Geburtstag im Mai zu haben und zum Glück hatte ich schon einiges an Geld auf dem Sparbuch, das meine Großmutter Luise extra dafür zu meiner Geburt angelegt hatte. Den Rest wollten mein Bruder und Francesca beisteuern und ich sollte Francescas altes Auto bekommen. Das war wahnsinnig lieb und ich hatte keine Ahnung, wie ich das zurückzahlen sollte, aber Gabriel meinte nur, dass ich es ihnen wiedergeben konnte, wenn ich nach dem Studium einen festen Job hatte - oder aber jeden Tag für sie kochen sollte, wenn ich bei ihnen eingezogen war, denn Francesca hasste Kochen. Das wollte ich nur zu gern tun. Auch meine Großmutter Luise wollte mir finanziell ein wenig unter die Arme greifen, nachdem sie von meinen Problemen erfahren hatte und auch sie versuchte immer wieder meinen Vater umzustimmen - ohne Erfolg. Trotzdem war ich all den Menschen unendlich dankbar, die mir helfen wollten und mir das Gefühl gaben, nicht so allein zu sein wie ich mich zuerst gefühlt hatte. Auch das gab mir die Kraft, nicht vollkommen zusammenzubrechen, auch wenn ich mich in immer kürzeren Abständen ritzte und einiges abnahm. Ich wurde noch stiller als sonst - das fiel sogar meinen Lehrern und Mitschülern auf. Meine neue Englischlehrerin sprach mich sogar direkt darauf an, ob ich ein Problem hätte, bei dem sie mir vielleicht helfen könne. Das war ich gar nicht gewöhnt, denn bisher hatte es nie einen Lehrer interessiert, was mit mir war und sie taten lieber so, als würde ich gar nicht existieren - was bei meinem mittlerweile fast vollkommenen Schweigen in der letzten Reihe nicht besonders schwer war. Aber die neue Lehrerin war tatsächlich sehr engagiert und sehr nett. Trotzdem schüttelte ich den Kopf. Auch meinen Mitschülern schienen die blöden Sprüche zu vergehen, auch wenn sie mich zu Beginn noch Zombie nannten. Aber selbst sie schienen zu spüren, dass es mir wirklich schlecht ging, denn oft brach ich bei der geringsten Kleinigkeit in Tränen aus - und das war selbst ihnen zu viel oder sie hatten wirklich Mitleid. In den Pausen saß ich meist allein in der Raucherecke und rauchte eine Zigarette nach der nächsten. Ich war wirklich ein nervliches Wrack und rauchte mittlerweile oft eine Schachtel am Tag. Am schlimmsten waren die Wochenenden, wenn ich mit Daniele zusammen sein musste. Ich hatte jedes Mal Angst vor einem weiteren Ausbruch und lag bereits oft schon donnerstags wach, weil ich an meinen Freund denken musste. Spätestens am Freitag Mittag wurde mir dann übel und oft musste ich mich übergeben. Alles in mir sperrte sich gegen Daniele, aber meinen Eltern war das egal. 

The Rollercoaster Called Life...Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt