Kapitel 43

191 17 28
                                    

Die nächsten Wochen und Monate zogen sich schier endlos dahin. Die Kellys waren weiterhin ständig unterwegs und es gab fast keine Möglichkeit für mich, sie zu sehen. Nur hin und wieder konnte ich zu einzelnen Konzerten, weil sie meist einfach zu weit weg waren. Jetzt stand auch Osteuropa und Spanien auf der Liste, sodass die Kellys noch mehr reisten als zuvor. Sie hatten eine anstrengende Promotour durch Tschechien und Polen, wo sie noch mehr als in Deutschland wie Superstars gefeiert wurden. Mir wurde beinahe übel, als Paddy mir begeistert davon erzählte. Ihm schien es wirklich gut zu gefallen, immer mehr gefeiert und hofiert zu werden. Ich war mir nicht sicher, ob ich es gut fand, dass mein bester Freund - so bezeichnete ich Paddy immer noch - langsam aber sicher immer mehr in die Liga der Superstars wanderte. Die Kellys schienen sich überhaupt keine Gedanken mehr über Geld zu machen und plötzlich war auch die Rede von Privatflugzeugen. Es war wirklich seltsam für mich, von dieser fremden, für mich unvorstellbaren Welt, zu hören und manchmal hatte ich das Gefühl, keinen wirklichen Zugang mehr zu meiner Lieblingsfamilie zu haben, die vor noch gar nicht so lange Zeit kostenlos in den Fußgängerzonen aufgetreten war.
Jetzt wurden zum ersten Mal Stadionkonzerte geplant, die Hallenkonzerte waren ohnehin restlos ausverkauft und die Kellys waren nicht selten mit echten Superstars auf der Bühne. Sogar der legendäre Luciano Pavarotti hatte sie für seine Show Pavarotti & Friends angefragt, bei der Weltstars wie Liza Minelli oder Eric Clapton auf der Bühne standen. Die Kellys hatten es tatsächlich geschafft. Im Frühjahr ging es für die Kellys auch zum ersten Mal für Studioaufnahmen nach Capri, da die Aufnahmen in Köln nicht wie erhofft liefen und sie hofften, auf der Insel besser arbeiten zu können. Paddy hatte das Studio entdeckt und war sofort begeistert von der Technik gewesen. Schneller, höher... Kellys. Das schien das neue Motto zu sein. Auf Capri würden zumindest Kathy und Paddy als Produzenten nicht viel von der wunderschönen Natur der Insel haben, weil sie vermutlich die meiste Zeit im dunklen Studio sitzen würden, aber trotz allem war es Wahnsinn, wie die Kellys lebten. Natürlich war mir klar, dass sie sich mit dem Geld mittlerweile das beste Equipment aussuchen konnten - und auch mussten, wenn sie mithalten wollten. Aber trotzdem stimmte es mich traurig und nachdenklich. Die Blase in der die Kellys lebten entfernte sich immer mehr von der realen Welt in der ich lebte und ich fragte mich manchmal, wie lange ich wohl überhaupt noch in Paddys Leben eine Rolle spielen würde. Manchmal kam es mir so vor, als hätte ich überhaupt keinen wirklichen Zugang mehr zu ihm und hatte das Gefühl, dass er ein wenig abgehoben war. Auch was die Mädchen betraf, schien er jetzt auf den Geschmack gekommen zu sein. In recht kurzer Zeit hatte Paddy mehrere Freundinnen, mit denen er auch mehr tat als nur ein wenig zu knutschen und Händchen zu halten. Ich hatte zwar damit gerechnet, denn es war mir klar, dass Paddy ganz sicher nicht enthaltsam sein würde, nachdem er jetzt wusste, wie es sein konnte - und ich konnte auch nicht erwarten, dass er geduldig auf mich warten würde, bis ich bereit war. Trotzdem tat es weh und verletzte mich, auch wenn ich nicht wirklich etwas dazu sagte.
Manchmal zweifelte ich tatsächlich daran, ob ich an Paddys Geburtstag das Richtige getan hatte, als ich mit ihm geschlafen hatte. Vielleicht wäre es sonst einfacher für mich gewesen. Ich selbst konnte einfach nicht mit Daniele schlafen, auch wenn ich es tatsächlich ein paar Mal versuchte. Er hatte sich in den letzten Monaten sehr verändert und sogar eine Therapie gemacht. Trotzdem fiel es mir immer noch schwer, ihm zu vertrauen und vor allem körperliche Nähe zuzulassen. Es war in Ordnung, wenn wir etwas zusammen unternahmen, aber mehr konnte ich einfach nicht. Ich kam mir irgendwie schlecht dabei vor, weil ich das Gefühl hatte, sowohl Paddy als auch Daniele zu betrügen. Es war ein ziemliches Gefühlschaos, über das ich nur mit Claire wirklich reden konnte, die mich zumindest ansatzweise verstehen konnte. Mit meiner Mutter zu reden traute ich mich nicht, weil ich fürchtete, dass sie nicht wirklich begeistert sein würde - selbst wenn sie mir sogar mehr oder weniger genau dazu geraten hatte. Und mit Francesca konnte ich nicht reden, weil es dann garantiert Gabriel erfahren hätte - das wollte ich auf keinen Fall. Ich hätte auch gern mit Paddy darüber geredet, aber weder er noch ich sprachen wirklich über das, was an seinem Geburtstag geschehen war. Wenn wir zusammen waren, war es irgendwie seltsam verkrampft und keiner von uns schien wirklich zu wissen, wie wir jetzt miteinander umgehen sollten. Manchmal schafften wir es nicht einmal miteinander zu reden und trauten uns nicht einmal mehr uns zu berühren. Ich war nicht sicher, ob Paddy Angst hatte, sich dann vor seinen Geschwistern zu verraten, weil er sich dann nicht hätte zurückhalten können oder ob er trotz allem irgendwie verletzt war. Er war schwierig einzuschätzen und ich hatte oft das Gefühl, dass er nicht mehr so offen mit mir sprach wie früher - als würde eine riesige, unsichtbare Mauer zwischen uns stehen. Selbst am Telefon oder in seinen Briefen blieb Paddy recht oberflächlich und erzählte kaum etwas von sich selbst. Meist ging es nur um berufliche Dinge oder irgendwelche Erlebnisse, die er gehabt hatte. Sein Seelenleben hielt er vor mir geheim und ließ nur selten durchblicken, was er wirklich fühlte. Ich hatte keine Ahnung, warum das so war, denn bisher hatten wir uns immer alles anvertraut.
Vielleicht lag es aber auch daran, was seit einer Weile rund um die Familie passierte, denn so sehr wie sie noch im letzten Jahr gefeiert wurde - desto mehr wurde sie jetzt von der Presse zerrissen, die nach jedem noch so kleinen Fehler suchte. Beinahe jeden Tag gab es irgendwelche neue Schlagzeilen. Es ging um die Mauer am Kölner Hafen, die die Kellys angeblich ohne Genehmigung gebaut hatten, aber auch um ernste Dinge wie Steuerhinterziehung und Schulpflicht für Angelo und Maite. Angeblich waren die beiden nicht ordentlich in Köln gemeldet und vor allem Angelo war noch im schulpflichtigen Alter. Auch Spenden sollten die Kellys unterschlagen und in die eigene Tasche gesteckt haben. Ein ehemaliger Bodyguard packte über angebliche Orgien auf dem Hausboot aus, die die Kellys gefeiert haben sollten - inklusive Drogen und Alkohol. Weiter ging es mit den ältesten drei Geschwistern Danny, Caroline und Paul, die angeblich von der Familie verstoßen und verschwiegen wurden, aber auch über Dans erste Ehe mit Janice, aus der die ältesten vier Kinder hervorgegangen waren. Die Schlammschlacht war schier endlos und jeden Tag wurde irgendeine neue Schlagzeile von den Boulevardblättern aus dem Hut gezaubert. Es war einfach widerlich. Die dämliche BRAVO rief sogar die Fans auf, den Kellys Briefe zu schicken, um ihnen ihre Solidarität zu bezeugen und machte sogar ein Voting, welcher Kelly der Liebling der Fans war - mit einem wenig überraschenden Ergebnis. Es wunderte mich nicht, dass die Kellys einfach nur möglichst weit weg von all diesen Schlagzeilen sein wollten, die sie sicher sehr verletzten. Ich konnte mir gut vorstellen, dass Paddy bei so einer Welle des Hasses auch sein Vertrauen zu anderen Menschen verlor und sich noch mehr zurückzog, als er es zuvor schon getan hatte. Er sprach nie darüber, aber es hätte mich nicht gewundert, wenn es ihn zusätzlich zu seiner Arbeit im Tonstudio, den Konzerten und den weiteren Terminen sehr belastete - genau wie den Rest der Familie. Das war ein gutes Beispiel dafür, wie die Presse mit Künstlern umging - an einem Tag liebte sie und feierte sie sie, nur um sie am nächsten Tag bei jeder Gelegenheit zu zerstören. Wie gern hätte ich Paddy gefragt, was in ihm vorging, aber da er nicht mit mir darüber sprechen wollte, war das quasi unmöglich. Bisher hatte sich noch keiner der Kellys irgendwie zu all den Dingen in der Presse geäußert - und sie würden es wohl auch nicht tun. Was gerade passierte, war ein gutes Beispiel dafür, warum die Familie die Presse bis auf ganz wenige Ausnahmen mied und auch keine Interviews gab. Dieser Medienrummel war ihnen trotz allem zuwider und sie waren froh, wenn sie nur in irgendwelchen TV - Shows auftreten mussten, um PR zu machen. Da in absehbarer Zeit nicht wirklich etwas geplant war, mussten sie nur im Ausland mit dem verhassten Playback auftreten und Interviews geben, um auf sich aufmerksam zu machen. Dan hatte allerdings genug von dem Theater und auch bemerkt, dass seine Kinder dringend ein wenig Ruhe brauchten. Deshalb hatten die Kellys tatsächlich entschieden, nach Irland zu ziehen. Im Februar hatten sie sich bereits mehrere Häuser angesehen und im Sommer wollten sie sich schließlich ein großes Anwesen namens Eastgrove in Cobh kaufen - einer Küstenstadt im County Cork im Süden Irlands. Spätestens im Herbst wollte die Familie dann nach Irland auswandern. Das Haus war riesig und besaß sogar einen kleinen Privatstrand sowie einen Bootsanlegesteg für die Santa Barbara Anna. Was aus dem Hausboot werden sollte, wussten die Kellys noch nicht. Vorerst sollte es nach dem Umzug aber erst einmal in einer Werft in Belgien auf Vordermann gebracht werden. Die Firma der Kellys sollte allerdings in Deutschland bleiben, auch wenn das einigen Aufwand bedeutete, wenn es um geschäftliche Dinge ging und wenn sie länger in Deutschland waren, wollten die Kellys in Köln im Hyatt übernachten. Dort verbrachten sie mittlerweile ohnehin die meiste Zeit, wenn sie überhaupt einmal frei hatten. Der Gedanke, dass die Kellys bald so weit weg sein würden und ich sie nicht einmal an ihren seltenen freien Tagen besuchen konnte, stimmte mich wahnsinnig traurig, auch wenn ich ihr Bedürfnis nach Ruhe verstehen konnte. Allerdings fragte ich mich, ob ich sie überhaupt noch sehen würde - auch wenn ich das nicht aussprach.

The Rollercoaster Called Life...Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt