Kapitel 19

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Der Urlaub auf Norderney war für mich die totale Hölle. Ich langweilte mich fast zu Tode und bettelte meine Eltern an, dass wir noch einmal zu einem Konzert der Kellys fuhren, die gerade an der Ostsee tourten. Es war nicht einmal weit weg, aber mein Vater hatte keine Lust und alleine durfte ich nicht fahren - egal, was ich versuchte. Gabriel hätte mich vermutlich begleitet, aber mein Vater war der Meinung, dass diese Zeit der Familie gehörte und ich schon genug Zeit mit den Kellys verbracht hatte - immerhin drei ganze Wochen. Er drohte sogar, mir den Kontakt und damit die Konzertwochenenden komplett zu verbieten, wenn ich noch weiter nerven würde. Also schwieg ich, auch wenn es mich quälte, Paddy so nahe zu sein ohne ihn sehen zu können. Aber ich wollte meinen besten Freund auf keinen Fall verlieren. Meine Mutter und Gabriel hatten Mitleid mit mir, weil ich den ganzen Tag mit einer Trauermiene herumlief, aber gegen meinen Vater kamen auch sie nicht an.
So oft es ging, telefonierten Paddy und ich und ich schrieb ihm fast täglich einen langen Brief, um ihm zu erzählen, was mich bewegte. Dabei war mir egal, dass er diese Briefe vermutlich erst viel später lesen würde, denn er war fast ununterbrochen mit seinen Geschwistern unterwegs. Paddy erzählte mir, dass An Angel tatsächlich ein riesiger Hit war und in den Charts ganz oben eingestiegen war. Auch das Video lief bei Viva in Dauerrotation, nachdem der Sender sich zuerst geweigert hatte, das Video überhaupt zu zeigen und die Kellys quasi darum hatten betteln müssen. Schließlich hatte Viva nachgegeben und war schon nach der ersten Ausstrahlung mit Bitten quasi bombadiert worden, das Video unbedingt zu zeigen. Ich hatte das Video ebenfalls gesehen und das Endprodukt gefiel mir sehr gut. Es waren wunderschöne verträumte Aufnahmen entstanden, die perfekt zu dem Lied passten. Als schließlich das Album Over the hump erschien, stieg auch dieses in den Charts auf Platz eins ein. Es war der absolute Wahnsinn und Paddy rief mich sofort an, nachdem er es erfahren hatte. Er war total aufgeregt und sprudelte die Worte nur so aus sich heraus, während ich im Hintergrund seine genau so aufgedrehten Geschwister hören konnte. Sie waren gerade mitten in einem Fotoshooting für die BRAVO, die mittlerweile wöchentlich große Artikel über die Geschwister veröffentlichte. Ich freute mich ebenfalls für die Kellys - besonders für Kathy und Paddy, die das Album produziert hatten, das schon mehrere hunderttausend Käufer hatte. Der totale Wahnsinn und ich konnte es kaum glauben, dass die Kellys von Straßenmusikern tatsächlich auf dem Weg zu echten Superstars waren. Ich freute mich natürlich, dass ihre harte Arbeit der letzten Jahre endlich Früchte trug, aber gleichzeitig hatte ich auch ein komisches Gefühl im Bauch.

Selbst in meiner Klasse war der Kelly - Hype mittlerweile angekommen und einige Mädchen hatten Poster von Paddy an ihren Wänden und schwärmten von ihm - sogar meine Erzfeindin Melissa, die zusammen mit Robin die Anführerin der Mobber in meiner Klasse war. Mir drehte sich fast der Magen um, als ich das erfuhr. Mir war es vollkommen egal, ob und in wen sich Paddy verliebte - so lange es nicht die arrogante Zicke Melissa war, die sich für etwas Besseres hielt. Dann hätte ich vermutlich beiden die Augen ausgekratzt. Melissa war einfach der Inbegriff des Modepüppchens und ich hätte wirklich an Paddys Verstand gezweifelt, wenn er sich für so eine oberflächliche Kuh entschieden hätte. Ich fand es ziemlich befremdlich, die Mädchen in meiner Klasse so von Paddy schwärmen zu hören. Außer meinen Freunden und Daniele wusste zum Glück niemand, dass ich die Kellys kannte - und ich wollte, dass es auch so blieb. Ich hatte wirklich keine Lust darauf, plötzlich alle Mädchen als meine besten Freundinnen zu haben, weil sie hofften, durch mich an Paddy heranzukommen - erst recht nicht Melissa. Immerhin hatte ich mittlerweile genug Fans kennengelernt und wusste wie sie tickten. Also schwieg ich und schüttelte nur insgeheim den Kopf über die Mädchen, die Paddy scheinbar zu einer Art Gott erklärt hatten. Wenn sie wüssten, dass er auch ganz anders sein konnte, als es in der BRAVO stand und manchmal alles andere als der liebe, romantische Junge war... Vermutlich wäre dann ihre Welt zerbrochen. Stattdessen zitierten sie die Artikel aus der BRAVO auswendig und bildeten sich ein, Paddy wirklich zu kennen. Ich hätte beinahe einen Lachanfall bekommen, als ich durch die Titelseite der BRAVO erfuhr, dass Paddy noch Jungfrau war. Immerhin wusste ich aus erster Hand, dass das zumindest nicht ganz der Wahrheit entsprach. Aber ich konnte auch verstehen, dass Paddy solche privaten Details für sich behielt - zumal es eh mehr als seltsam war, ihm überhaupt so eine Frage zu stellen. Gut, wir hatten auch über unsere Erfahrungen zu dem Thema geredet, aber wir waren immerhin Freunde und ich war nicht irgendein fremdes Mädchen, das einfach solche Dinge erfahren wollte. Aber da konnte man wieder sehen, was in den Fans vor sich ging - und welches Image ihm und seiner Familie gegeben werden sollte. Vermutlich würde er für seine Fans auch in zehn Jahren noch die heilige Jungfrau sein - selbst wenn er bis dahin in Wahrheit längst eine Freundin oder sogar Ehefrau hatte. Ich fragte mich wirklich, was in Paddy vorgehen mochte, wenn ihm das Image des verträumten romantischen Sonnyboys angeheftet wurde, was er gar nicht unbedingt war.
Aber ich hatte nicht nur Kontakt zu Paddy, sondern auch zu Barby und hin und wieder sogar zu Maite. Ich freute mich immer, wenn ich Briefe von Barby erhielt, die sie jedes Mal sowohl auf dem Umschlag als auch innen wunderschön verzierte. Sie schrieb mir ebenfalls, was sie so bewegte und ich spürte an ihren Briefen sehr deutlich, dass sich irgendetwas langsam aber sicher in ihr zu verändern schien. Ihre Briefe waren wunderschön und blumig geschrieben - manchmal waren es auch nur Gedichte -, aber manchmal waren sie auch ein wenig verwirrend um ehrlich zu sein. Barby schien sich immer öfter in eine Welt zu flüchten, die niemand außer ihr verstand und zu der sonst niemand Zugang hatte. Das machte mir Sorgen, aber ich schob es einfach darauf, dass sie eben Künstlerin aus tiefster Seele und das ihre Art war, mit dem beginnenden Wahnsinn um sie herum umzugehen. Ein wenig seltsam war es dennoch, wenn Barby mir von Dingen schrieb, die ich nicht begreifen konnte, aber ich war sicher, dass es ihr gut ging und ihre Geschwister schon auf sie aufpassen würden. Ich konnte ohnehin nichts tun. Maite dagegen schrieb ganz anders als ihre Geschwister. Während Paddy oft sehr nachdenkliche Briefe schrieb und seine Worte mit Bedacht wählte, war Barby oft verträumt oder verlor manchmal auch den Faden, weil sie sich in Kleinigkeiten verstrickte. Maite dagegen sprudelte einfach alles aus sich heraus, was in ihr so vorging. Sie hatte selten ein festes Thema, sondern schrieb was ihr eben gerade in den Sinn kam - ohne über irgendwelche Formulierungen nachzudenken. Dabei war sie nicht oberflächlich, aber eben anders als ihre Geschwister. Ich mochte Maites Briefe, die mich oft sehr zum Lachen brachten. Sie war einfach eine Frohnatur, auch wenn sie durchaus nachdenkliche Momente hatte und genoß ihr Leben. Maite war einfach keine tiefgründige Denkerin, sondern eben pragmatisch - was durchaus keine schlechte Eigenschaft war. Sie nahm die Dinge wie sie eben waren und machte einfach das Beste daraus ohne groß alles zu analysieren wie Paddy es gern tat. Auch Romantik war nicht unbedingt Maites Ding, auch wenn sie kitschige Dinge mochte. Außerdem machte sie sich selten große Gedanken über irgendwelche Konsequenzen so wie Paddy es ständig tat, sondern tat einfach das was ihr gerade einfiel. Sie war eben ein wenig verrückt und animierte vor allem Paddy gern dazu, es ihr gleich zu tun. Manchmal sprudelten auch Dinge aus Maite heraus, die sie hinterher lieber nicht gesagt hätte, aber das war nun mal ihre Art. Sie war eben offen und ehrlich, während Paddy sehr kontrolliert war. Auch an der Schrift konnte ich die drei sofort auseinander halten. Paddys Schrift war sehr klar und ordentlich - eigentlich recht ungewöhnlich für einen Mann. Barby hatte eine eher verschnörkelte Schriftweise und schien manche Buchstaben eher zu malen, anstatt zu schreiben. Trotzdem wirkte ihre Schrift trotzdem sehr klar und ordentlich. Maites Schrift war dagegen ein wenig unordentlich und etwas krakelig. Irgendwie spiegelte die Schrift der Geschwister ziemlich gut ihre unterschiedlichen Charaktere wider. Paddy war der Denker, der alles sehr klar sah, Barby eine Träumerin wie ich, die aber trotzdem auch sehr rational sein konnte und Maite die temperamentvolle, sympathische Chaotin. Jeden der Briefe verwahrte ich ordentlich in einer Schachtel auf, um sie irgendwann später noch einmal in aller Ruhe lesen konnte. Ich war wirklich gespannt, was ich in einigen Jahren wohl über das denken würde, was wir uns heute schrieben. Mit Barby schrieb ich viel über Kunst und unsere Träume. Maite teilte mir oft einfach mit, was in der Familie passierte oder schrieb über irgendwelche süßen Jungs, die sie kennengelernt hatte. Paddy schwärmte von ihren Charterfolgen, erzählte von ein paar Erlebnissen mit Fans und plante mit mir die Zukunft. In zehn Jahren wollten wir auf jeden Fall als Nachbarn am Meer wohnen - am liebsten sogar in einer Doppelhaushälfte, damit wir noch näher zusammen waren. Irgendwann wollten wir auch Kinder mit unseren jeweiligen Partnern und vielleicht sogar eine Doppelhochzeit haben. Unsere Kinder sollten gemeinsam aufwachsen und eines Tages hoffentlich ebenfalls beste Freunde sein. Über all diese Dinge redeten wir oder schrieben uns. Ich war neugierig, wie ich diese Träumereien mit ein paar Jahren Abstand sehen würde, weil sie vermutlich ohnehin nicht in Erfüllung gehen würden. Wahrscheinlich würden Paddy und ich eines Tages zusammen sitzen, die Briefe lesen und uns amüsieren, wie naiv wir mit 16 noch gewesen waren - eben voller verrückter Träume.

The Rollercoaster Called Life...Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt