Kapitel 4

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Wenig später erreichten wir den Marktplatz und ich machte große Augen. War er gestern schon voll gewesen - jetzt platzte er fast aus allen Nähten. Gefühlt die halbe Stadt hatte sich hier versammelt und es mussten hunderte Menschen sein, wenn nicht sogar tausende, die hier dicht an dicht standen. Die meisten waren junge Mädchen in meinem Alter, aber es waren auch Kinder mit ihren Eltern und sogar ältere Menschen. Tatsächlich sah ich auch ein paar stadtbekannte Punker im Publikum. Ich war vollkommen baff und hatte ein leicht klaustrophobisches Gefühl, beim Anblick der vielen Menschen. Kurz fragte ich mich, ob überhaupt noch jemand auf der Kirmes war, denn die Bühne auf dem Marktplatz schien der wahre Magnet dieses Jahr zu sein. Ich konnte neun Menschen erkennen, die auf dem zur Bühne umgebauten Truck standen und Instrumente spielten - alle mit unglaublich langen Haaren. Es waren unmissverständlich Geschwister, denn sie sahen sich alle ähnlich.
Ich ließ meinen Blick kurz über die Bühne schweifen. Da waren die beiden Mädchen und der kleine Junge, die gestern mit Paddy beim Autoscooter gewesen waren. Das verträumte Mädchen stand jetzt hinter zwei Congas und trommelte darauf herum, während ihre mollige Schwester fröhlich mit einem Tamburin in der Hand neben ihr herumhüpfte. Der kleine Junge saß hinter einem riesigen Schlagzeug, das ihn beinahe komplett verdeckte und trommelte einen wilden Rhythmus. Auf der anderen Seite des molligen Mädchens erkannte ich die hübsche Blondine, die Paddy zum Essen gerufen hatte und spielte auf einer riesigen Trommel. Neben ihr stand der Mann mit dem Pony und zupfte an einem Bass. Auf der anderen Seite des Schlagzeugs stand eine mir noch unbekannte dunkelhaarige Frau an einem Keyboard. Sie schien die Älteste der Familie zu sein und hatte ein kleines Kind in einer Trage vor dem Bauch. Neben ihr standen die letzten beiden Männer von gestern und spielten Gitarre. Sie schienen ein absolut eingespieltes Team zu sein und es war deutlich zu sehen, dass sie nicht zum ersten Mal machten. So etwas hatte ich noch nie gesehen, aber die Musik gefiel mir sofort. Der Letzte, auf den ich meinen Blick wandte, war Paddy, der in diesem Augenblick mit einer Gitarre in der Hand an das Mikrofon direkt am Bühnenrand trat und mit klarer Stimme in ein Lied einstieg. Seine Stimme zog mich sofort in ihren Bann und konnte den Blick nicht abwenden. Es klang wunderschön.

"Ist das dieser Junge, von dem du erzählt hast?", wollte Gabriel wissen, als er meinen Blick bemerkte und deutete auf Paddy. "Aber wieso die langen Haare?"

Ich nickte verlegen. "Ja, ist er." Ich hob die Schultern. "Warum alle so lange Haare haben weiß ich auch nicht."

Gabriel musterte Paddy noch einmal stirnrunzelnd und zog mich dann in Richtung Bühne. Aber ich fühlte mich dort vorne nicht wohl, weil es zu eng war und ich wollte lieber weiter hinten bleiben. Gabriel sah mich etwas überrascht an und ging dann zum Getränkestand. Als ich das sah, musste ich ein wenig schmunzeln und direkt an gestern denken. Was Gabriel wohl von Paddys Idee hielt, Bier oder Whiskey mit Cola zu mischen und es dann als Cola vorzustellen? Vielleicht würde er dasselbe auch tun - zutrauen würde ich es ihm auf jeden Fall. Gabriel war eigentlich sehr korrekt, aber manchmal hatte auch seine kleinen Tricks, um die Verbote meines Vaters zu umgehen.
Ich nahm dankbar die Cola entgegen, die Gabriel mir gebracht hatte und wandte mich dann wieder der Bühne zu. Die vielen Geschwister faszinierten und verzauberten mich - jeder oder jede auf seine Weise. Der Mann mit dem Bass hatte eine herrlich rauhe Stimme, die auch in eine Rockband gepasst hätte. Die Frau mit der Trommel hatte eine Stimme, die an einen Engel erinnerte und das mollige Mädchen war ein fröhlicher Wirbelwind, der kaum eine Minute still stand. Der Junge hinter dem Schlagzeug überraschte mich mit einer unglaublich kraftvollen Stimme, die ich bei einem Kind nie vermutet hätte. Die Frau hinter dem Keyboard klang wie eine Opernsängerin, während das Kind vor ihrem Bauch immer wieder fröhlich mit den Händchen ins Publikum winkte. Der Mann, der gestern noch einen Strohhut getragen hatte, hatte eine sehr tiefe, beruhigende Stimme, die mich zum Träumen brachte. Der wildeste der Gruppe hatte eine laute, aber trotzdem schöne Stimme, die auch in eine Heavy Metal - Band gepasst hätte - auch vom Äußeren hätte er gut hineingepasst. Am meisten aber beeindruckten mich aber das verträumte Mädchen und Paddy. Das Mädchen hatte eine unverkennbare kraftvolle, ein wenig rauhe Stimme, die mir sofort gefiel. Sie strahlte eine wahnsinnige Energie aus, wenn sie sang und als sie tanzte, schwebte sie förmlich über die Bühne. Auch Paddy war ein Energiebündel und tobte immer wieder über die Bühne. Immer wieder forderte er das Publikum alleine oder mit seinen Geschwistern zum Klatschen und Mitsingen auf. Vor allem sein jüngster Bruder, aber auch das verträumte Mädchen unterstützten ihn dabei immer wieder, aber auch seine mollige Schwester. Alle neun waren für jeder für sich genommen wunderbare Sänger und Musiker, aber als eine Einheit waren sie pure Magie. Immer wieder wechselten die Geschwister von einem Instrument zum nächsten - jeder schien irgendwie alles spielen zu können. Der Spaß an dem, was sie da auf der Bühne taten war unübersehbar und übertrug sich auf das Publikum. Immer wieder alberten die neun herum oder machten kleine Scherze. Es war so schön anzusehen. Auch ich war bald wie in einer anderen Welt. Ich kannte zwar die Lieder nicht, aber auch ich klatschte schon nach wenigen Minuten begeistert mit und hüpfte herum. So glücklich und frei hatte ich mich noch nie gefühlt und ich vergaß einfach alles - die Menschen um mich herum, meine Eltern, die Schule... Es war, als wäre ich verzaubert und in eine fremde, wunderschöne Welt getaucht, in der es keine Probleme mehr gab.

The Rollercoaster Called Life...Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt