1 LIZ ‖ Unerwünschte Auszeit

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„Wer bist du und was hast du mit meiner Schwester gemacht?"

Mein Zwillingsbruder steht in meiner Zimmertür und seine Stimme klingt viel zu amüsiert. „Verdammt, Liz. Bist du das wirklich? Du siehst grauenhaft aus." Aus den Augenwinkeln nehme ich wahr, wie er sich in meine Richtung bewegt.

„Vielen Dank, ich hab' mir Mühe gegeben."

Jo tritt neben mich und legt mir einen Arm um die Schultern. Meine Augen werden immer größer, als sein Spiegelbild neben meinem auftaucht.

„Oh mein Gott Jo, mir ... fehlen ... die Worte", bringe ich völlig platt nur stockend über die Lippen. „Du hast dich wirklich selbst übertroffen." Ich schlucke trocken, denn so wie er jetzt aussieht, würde ihn nicht einmal unsere Mutter wiedererkennen.

Was ist aus meinem heißen, durchtrainierten Bruder geworden? Dem wahr gewordenen Mädchentraum? Das Einzige, was mich an ihn erinnert, ist sein Duft, der mir nun in die Nase steigt. Immerhin benutzt er noch sein gewohntes Aftershave.

Aber alles andere hat sich radikal verändert. Statt der üblichen lässigen Wuschelfrisur hat er sein dunkles Haar streng nach hinten gegelt, die hellblauen Augen haben dank gefärbter Kontaktlinsen eine braungrüne Schlammfarbe angenommen und genau wie ich trägt er jetzt eine breitrandige, schwarze Brille mit dicken Gläsern.

Und seine Figur ...

„Jo, wie hast du so schnell dreißig Kilo zugenommen?" Langsam den Kopf hin und her bewegend starre ich kurz auf sein Spiegelbild, bevor ich mich umdrehe und meinen Blick am Original hinabgleiten lasse.

Sein athletischer Körper und die definierten Muskeln, die man sonst sogar durch seine Shirts erahnen kann, sind unter einer dicken Schicht eines mir unbekannten Materials verschwunden. Darüber trägt er ein weites, helles T-Shirt und ein offenes, beige-weiß gestreiftes Herrenhemd von seltener Hässlichkeit. Sein falscher Bauch quillt über den Gürtel seiner Jeans, die eine furchtbare, hellbraune Farbe hat. Bei seinem Anblick schüttelt es mich, als wäre ich ein nasser Hund.

„Schon mal was von Fatsuits gehört, Sis?" Ein breites Grinsen erscheint auf seinem Gesicht. „Aber hey, du hast dich auch sehr zu deinem Nachteil verändert, Kleine. Und das meine ich als Kompliment." Jo zwinkert mir frech zu, nimmt mich bei der Hand und dreht mich wie bei einem Solo auf der Tanzfläche einmal um meine eigene Achse. Dann starren wir wieder gemeinsam in den Spiegel. „Wow, schau uns an. Wenn wir noch wir wären, würden wir über uns selbst den Kopf schütteln", meint er und grinst, während er seinen Arm wieder um meine Schultern legt.

„Oh Mann, du hast recht. Wir würden die Augen verdrehen und einen großen Bogen um uns machen. Es ist einfach unfair! Endlich sind wir in den USA! Davon haben wir so lange geträumt! Aber anstatt voll durchstarten zu können, müssen wir uns verstecken und zur Krönung auch noch so bescheuert dabei aussehen!" Mit einem Schnauben lasse ich mich auf den Stuhl fallen, der neben dem weißen Schminktisch steht, und verschränke die Arme vor der Brust.

Mein Blick wandert durch den Raum. Ein so riesengroßes, luxuriöses Schlafzimmer hatte ich noch nie. Es hat sogar ein eigenes Bad, einen begehbaren Kleiderschrank und einen Balkon. Die bodentiefe Fensterfront, die sich über die gesamte Breite des Zimmers erstreckt, gibt den Blick auf einen parkähnlichen Garten frei. Die Einrichtung besteht aus einem gigantischen, dunkelgrauen Boxspringbett, einem Schminktisch und einer weißen Ledercouch. Eine Pflanze mit dicken Blättern, die sich fast bis zur Zimmerdecke erstreckt, sorgt für einen grünen Farbtupfer.

Der Aufenthalt hier könnte traumhaft sein, wäre da nicht diese eine Sache.

„Alles nur wegen diesem blöden, irren Psycho! Ich könnte ihn killen!"

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