55 LIZ ‖ Aufgelauert

1.3K 123 111
                                    

„Na endlich. Ich dachte schon, ich liege hier vergeblich seit Stunden auf der Lauer." Erschrocken zucke ich zusammen, als ich die müde Stimme meines Bruders aus einer dunklen Ecke der Küche vernehme.

„Was zur Hölle!", fluche ich, weil der Schock mich beinahe aus meinem tranceartigen, betäubten Zustand gerissen hätte. Das darf auf keinen Fall passieren.

Verdammt, ich war zu unvorsichtig! Jo hat mich tatsächlich erwischt.

Im Schein des Mondlichts, das durch die großen Fenster ins Zimmer fällt, kann ich sehen, wie er aus einem Sessel aufsteht, hinter vorgehaltener Hand gähnt und sich dann streckt. Anscheinend hat er diese Sitzgelegenheit dort aufgestellt, um mich aus dem Hinterhalt abzupassen. Vorsichtig bewegt er sich durch den halbdunklen Raum. „Weißt du, wenn der Prophet nicht zum Berg kommt, muss der Berg eben zum Propheten kommen", murmelt er dabei einen seiner schlauen Sprüche vor sich hin. Sekunden später erstrahlt der grausam helle Schein der Deckenlampe. Geblendet wie ein Reh im Scheinwerferlicht blinzle ich wie verrückt.

„Shit, Jo. Was tust du, verdammt?" An meiner kratzigen Stimme hört man deutlich, dass ich seit Tagen keinen einzigen Ton gesprochen habe. Sie ist richtiggehend eingerostet.

Mein Bruder glotzt mich aus großen, weit aufgerissenen Augen an, bevor er den Kopf schüttelt. „Die Frage muss doch wohl eher lauten, was du tust, Liz? Deine Augenringe begegnen demnächst deinen Lippen und angesichts deiner Frisur könnte Struwwelpeter einpacken. Mein Gott, du siehst zum Fürchten aus."

„Das liegt daran, dass ich zum Fürchten bin, Jo", bemerke ich trocken. „Ich muss auch nur kurz meine Vorräte auffüllen, dann verschwinde ich sofort wieder und du brauchst meinen Anblick nicht länger zu ertragen."

Ohne ein weiteres Wort kommt mein Bruder mit großen Schritten auf mich zu und zieht mich in seine Arme. Überfordert lasse ich es einfach geschehen. Doch ich bemerke, wie seine Wärme und seine sanften Berührungen sofort an der dicken Schicht kratzen, die ich um mich herum aufgespachtelt habe. Ich brauche sie, um nicht auseinanderzufallen.

„Liz, bitte. So kann es nicht weitergehen. Du hockst seit einer Woche in deinem Zimmer und lässt niemanden zu dir. Lass uns dir bitte, bitte helfen." Die Verzweiflung, die in seiner Stimme mitschwingt, rüttelt gnadenlos an meiner Fassade und schafft es beinahe, Risse zu erzeugen und bis zu mir durchzudringen. In letzter Sekunde winde ich mich aus seiner Umarmung und trete einen Schritt zurück.

„Mir ist nicht zu helfen. Ich brauche einfach Zeit für mich, okay. Ich werde mich schon wieder berappeln." Selbst keinesfalls überzeugt von meinen monoton vorgetragenen Worten schaffe ich es offenbar auch nicht, meinen Bruder damit zu beruhigen.

„Liz, so wird das nichts", höre ich ihn auch schon neunmalklug sagen, während ich zu verschiedenen Schränken laufe, um mir zwei Tafeln Nougatschokolade, zwei Tüten Chips und eine Flasche Rotwein zusammenzusammeln.

Mit meiner Beute in den Händen werfe ich meinem Bruder einen eisigen Blick zu, denn er hat sich in seiner vollen Breite mit verschränkten Armen vor der Tür aufgebaut. Er zieht unbeeindruckt seine Brauen hoch, zuckt mit den Schultern und tritt völlig gelassen einen Schritt zur Seite. Perplex runzle ich die Stirn und fixiere ihn aus zusammengekniffenen Augen.

Das war eindeutig zu einfach.

„Pat hat oben gewartet und in der Zwischenzeit deinen Zimmerschlüssel geklaut", informiert er mich und ein winziges Grinsen erscheint auf seinen Lippen, bevor er mir im nächsten Moment wieder seine besorgte Miene präsentiert.

Das kann doch nicht wahr sein! Ich muss unbedingt zurück in meine Chaoshöhle. Das ist gerade der einzige Ort, an dem ich alles, was passiert ist, wenigstens halbwegs ertragen kann. Die ganzen Dinge, mit denen ich nicht klarkomme.

Rock me, Baby! ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt