Kapitel 26

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Mimmis Sicht

Ganze vier Stunden lag ich schon in meinem Zimmer. Es war das Zimmer, in dem ich aufgewacht bin. Also konnte ich hier auch sein. Zudem hätte ich auch nicht gewusst, in welches ich sonst hätte gehen können.

Obwohl schon ein paar Stunden vergangen waren, hatte ich das Gefühl, dass die Zeit gar nicht verging. Aber gut, vielleicht hatte man dieses Gefühl, wenn man auf nichts wartete.

Denn ich hatte keine Ahnung, was ich jetzt machen sollte. Einerseits sagte alles in mir, dass Milans Handeln nur zu meinem Schutz war, aber andererseits wusste er genau, dass es mir nicht gut ging.

Durch den Tod meiner Eltern hatte ich so gut wie meinen ganzen Halt verloren. Und genau das wusste Milan. Von dem was er erzählt hat, konnte ich zwar nicht sagen, ob Diego und Marco seine Entscheidung wirklich für gut hießen, aber sie wussten auch wie ich mich fühlte.

Ich würde schon sagen, dass ich sauer auf alle drei war. Sie haben mich alle drei im Stich gelassen.

Oder dramatisierte ich das Ganze zu sehr? Eigentlich kannte ich die ja gar nicht. Eigentlich stand mir kein Recht zu, sauer auf sie zu sein.

Wobei sauer war vielleicht nicht ganz das richtige Wort. Ich hätte es eher enttäuscht genannt. Oder war das auch zu viel?

Ach, keine Ahnung. Ich konnte momentan einfach keinen klaren Gedanken fassen. War ich jetzt wirklich in Gefahr wegen Mario? Der, der eiskalt Menschen erschoss? Das klang alles so absurd.

Ich wollte einfach nach Hause und nicht Angst haben müssen, dass mich jemand direkt umbringt.

Ein sanftes Klopfen ließ mich vom Bett hochschauen. "Ja bitte?", sagte ich und die Tür wurde geöffnet.

Es war Madam Rosa, die mir einen Teller Suppe neben das Bett stellte. "Sie müssen doch etwas essen.", ermahnte sie mich.

"Ich habe keinen Hunger.", entgegnete ich ihr knapp und ließ mich wieder auf das Bett fallen.

"Aber Sie haben noch nichts gegessen seitdem Sie hier sind, Misses Sánchez.", sagte sie und ich richtete mich wieder kerzengerade auf. Was hatte sie gerade gesagt?

"Wenn wäre es Miss Evans, aber sagen Sie doch bitte Mimmi.", sagte ich mit einem freundlichen leichten Lächeln.

"Oh, verzeihen Sie bitte. Ich dachte nur... Sie müssen wissen, Mr. Sánchez hat sonst nie Damenbesuch, der länger als 12 Stunden bleiben darf. Da dachte ich, dass das eigentlich eindeutig wäre. Aber gut, man weiß ja nie, was ein Mann denkt.", sprach sie und zwinkerte mir zum Schluss zu.

Ich wusste nicht, wie ich reagieren sollte. Einerseits könnte ich darüber lächeln, dass ich Milan wichtig schien, aber andererseits musste er wohl schon ein paar Frauen hier gehabt haben. Sonst hätte das Madam Rosa nicht einfach so sagen können.

Sie wollte das Zimmer gerade verlassen, doch sie stoppte: "Ich habe nicht das Recht mich in ihre Beziehung einzumischen, aber dass Sie hier sind, sollte ein Zeichen sein." Ich nickte nur. Was sollte ich auch antworten?

Sie schloss hinter sich die Tür und ließ mich wieder alleine. Was tat ich eigentlich hier? Ich sollte jetzt eigentlich im Hotel sein, bei meinem Onkel, bei Vanessa, in meiner eigenen Suite, in meinem eigenen Bett.

Aber nein, stattdessen lag ich hier im Bett, in dem Haus eines Mafia Bosses. Das war doch alles ein schlechter Witz. Hätte mir jemand vor einem Monat gesagt, dass ich mich irgendwann in dem Haus eines Mafia Bosses aufhielt und sogar mit ihm redete, hätte ich wahrscheinlich nur herzhaft darüber gelacht. Doch das hier war die bittere Realität.

Vor allem, wie sollte es jetzt weitergehen?

Der Gedanke, bei Milan zu sein, ließ mich nicht wirklich abschrecken. Jedoch theoretisch jederzeit entführt oder erschossen zu werden, machte die ganze Sache am schlimmsten.

Gut, ich hing nicht immer an meinem Leben, zu manchen Zeiten wäre mir so eine Situation egal gewesen. Doch diese Zeit war vorüber und mir lag wieder was am Leben.

Hoffentlich hatte er einen Plan, was wir jetzt machen sollten. Ja, ich sagte absichtlich wir. Schließlich ging es hier irgendwie um mich. Ich dachte zwar, dass das alles auf einen alten Streit von Mario und Milan zurück führte, aber es ging ja um mich. Wenn Milan mich dann wieder im Dunklen tappen ließ, würde ich ausrasten.

Apropos, ich sollte wahrscheinlich nochmal mit ihm reden. Ich war seit über vier Stunden in diesem Zimmer und hatte mich nicht bei ihm blicken lassen. Wahrscheinlich sollte ich das ändern.

Nur was sollte ich ihm sagen? Wie fühlte ich mich schlussendlich überhaupt? Vor allem, wie sollte es weitergehen?

Schon wieder Fragen über Fragen und ich brauchte Milan, um meine Antworten zu bekommen. Das konnte doch wohl nicht wahr sein. Ich musste irgendwie über diesen Gedanken lachen. Wann bin ich von einer Person abhängig geworden? Ach ja, stimmt, seitdem ich von einem Psychopathen bedroht wurde. Fast vergessen.

Ich war wirklich gedankenversunken, als mich das Grummeln meines Magens störte. Da fiel mir ein, dass neben mir ja noch die Suppe stand. Zu meinem Glück dampfte sie sogar noch ein bisschen. Das hieß, ich hatte sie nicht zu lange abkühlen lassen und konnte sie noch essen.

Während ich die Suppe aß, musste ich an die Situation von eben mit Madam Rosa denken.
Misses Sánchez... Mimmi Sánchez...

Okay nein, das ging zu weit.

Wobei... Nein. Mimmi Kiana Evans sollte bei der Sache bleiben und sich sofort diesen Gedanken aus dem Kopf schlagen, redete ich mir ein.

Dieser Typ hatte bestimmt schon hunderte von Frauen hier. Naja, bei seinem Aussehen wunderte mich das nicht. Wieso sollte er genau etwas von mir wollen? Ich bin nur länger als 12 Stunden hier, weil ich einen.. naja, Unfall hatte. Darauf sollte ich mir nicht zu viel einbilden. Madam Rosa hatte einfach Unrecht.

Aber ich sollte langsam echt mal mit Milan reden. Vielleicht war er unten in der Küche oder im Wohnzimmer. Mal schauen.

Rasch stand ich auf und richtete kurz nochmal meine Kleidung, ehe ich das Zimmer verließ.

Wenn ich jetzt noch den Weg wieder runter finden würde, wäre das wirklich toll. Ich sollte mir am besten einen Plan machen, damit ich die Zimmer fand. Mit Mühe hatte ich wieder hierher gefunden, aber wieder runter, war schwieriger als gedacht.

Also auf ein Neues. Wieder ging ich die Flure entlang und versuchte mich an den Weg zu erinnern. Hier rechts, den Gang lang, links abbiegen, nochmal links.

Ah, da war die Treppe, die einst weiter rauf führte. Also musste es hier auch runter gehen.

Und ich hatte Recht, vor mir befand sich wieder die Treppe, die in den Eingangsbereich führte.

Langsam ging ich die Treppe hinab. Diese hatte wirklich etwas Majestätisches an sich. Hätte ich noch ein Prinzessinnenkleid an, wäre dieser Moment perfekt gewesen. Aber es waren nur diese Gammelklamotten.

Ich bog nach links in das Wohnzimmer ab, in der Hoffnung, Milan würde noch da sitzen. Wobei eigentlich war das dumm, da unser Gespräch mittlerweile fünf Stunden her war. Als ob er nichts besseres zu tun hatte, als dort zu sitzen und zu warten, bis ich wieder kam.

Also in das andere Zimmer, was ich schon kannte: die Küche.

Eigentlich hätte ich dort ja Madam Rosa erwartet, die mir dann wieder sagen würde, dass ich ja besonders wäre, nur weil ich schon ein paar Tage hier war. Aber Fehlanzeige. Weder Madam Rosa noch Milan waren hier. Na super, ich kannte keine anderen Räume. Dann wurde es wohl mal Zeit, sich weiter umzusehen in diesem großen und wunderschönen Haus.

Ich lief gerade in einen Raum mit einem langen Esstisch und vielen Stühlen drumherum, als ich etwas Komisches bemerkte. Auf dem Tisch lag ein dicker Ordner mit der Aufschrift
V. & G. Evans
Was sollte das denn bitte bedeuten?

Instinktiv steuerte ich auf diesen mysteriösen Ordner zu. Doch weit genug, um ihn zu öffnen, kam ich nicht.
Denn ich wurde von einer Stimme aufgehalten. 

Life with secrets and liesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt