Kapitel 27

615 29 2
                                    


"Ihnen hat wohl keiner gesagt, dass dieser Ordner für Unbefugte strengstens verboten ist, oder?", sagte eine mir unbekannte Stimme.

Ich drehte mich um. "Tut mir leid, das wusste ich nicht.", faselte ich. Obwohl der Name meiner Eltern auf diesem Ordner stand, fühlte ich mich jetzt doch unwohl.

Die Frau, die um die Ende zwanzig schien, musterte mich: "Entschuldige, wenn das jetzt unhöflich klingt, aber wer bist du?"

Unsicher sah ich sie an. "Mimmi.", antwortete ich schüchtern. Normalerweise redete ich eigentlich offener mit Mitmenschen, da ich das im Hotel und in der Bar ja auch machen musste, aber irgendwie blieb mir momentan die Sprache weg.

Erstaunt sah sie mich an. "Natürlich, wie konnte ich das vergessen. Mimmi, die Kleine von Milan.", erwiderte sie.

Von Milan? Na super, am Ende kannte mich hier jeder nur so.

Sie bemerkte meinen Blick, der dann doch eher fragend war, da sie mich offensichtlich kannte, aber ich sie nicht.

"Tut mir leid, normalerweise bin ich nicht so. Ich bin Alice.", sagte sie und streckte mir ihre Hand entgegen. Zögerlich ergriff ich diese.

Einen Moment lang brauchte es, bis es bei mir ‚klick' machte. "Alice... Ja, klar, Milan hat mir von dir ein bisschen erzählt.", teilte ich ihr mit.

"Ich hoffe natürlich nur Gutes?", scherzte sie. Ich lachte leicht.

"Wie geht's dir? Ich hatte ja selbst noch gar keine Möglichkeit mit dir zu reden nach deinem Unfall.", erkundigte sie sich.

"Gesundheitlich geht es mir schon deutlich besser als vorher. Aber Milan hat mir die Situation erklärt und ich habe jetzt doch ein bisschen Angst vor Mario.", erklärte ich ihr.

"Ja, verständlich. Für dich ist das Ganze hier ja total neu und so. Für mich ist das mittlerweile Alltag. Mario macht schon die ganze Zeit Probleme. Das es jetzt auch dich getroffen hat, kam völlig unerwartet.", sagte sie.

Ich nickte. "Vielleicht bin ich auch selbst Schuld, da ich ihn angeschossen habe.", erwiderte ich.

Sie musste grinsen. "Stimmt, das hat Milan erzählt. Starke Aktion.", sagte sie und zwinkerte mir zu.

"Danke, schätze ich.", entgegnete ich verlegen. "Ich weiß, dass es mich nichts angehen sollte, aber was ist das für ein Ordner?", fragte ich Alice geradewegs heraus und deutete auf den Ordner, der immer noch auf dem Tisch lag.

"Ach das, diesen Ordner wollte sich Milan nochmal genauer anschauen, aber da dieser noch da liegt, nehme ich mal an, dass er noch keine Zeit dafür hatte. Wieso fragst du?", antwortete sie mir.

Ich hatte keine Ahnung, wie ich das erklären sollte. Also einfach raus damit: "Da steht der Name meiner Eltern drauf, deswegen interessiert es mich." Jetzt wo ich mich reden hörte, klang das blöd. Vielleicht hätte ich nicht so direkt sein sollen. Na super, mal wieder erst geredet und dann nachgedacht. Ganz toll, Mimmi.

Alice sah mich an. Es war eine Mischung aus Verwunderung und geschockt sein.

"Natürlich. Das hat Milan erzählt.", sagte sie und fasste sich an die Stirn. "Mimmi Evans, die Tochter von Grace und Vincent Evans, von der aber keiner wusste.", fuhr sie fort.

Ich nickte. "Jup, die Tochter, von der keiner wusste und die selbst überhaupt nichts über das alles wusste.", sagte ich mit leichter Ironie in meiner Stimme.

Dass ich wirklich von nichts wusste, schmerzte schon noch, aber da es ja irgendwie nur zu meiner Sicherheit war, war dies eine kleine Entschuldigung.

"Sie haben es ja nicht böse gemeint, sondern wollten dich nur beschützen.", bestätigte Alice nochmal meinen Verdacht. "Du glaubst nicht, wie viele Eltern ihre Kinder vor der Mafia geheim halten. Nur so können sie ein ruhiges Leben führen.", sagte sie und nahm den Ordner vom Tisch an sich.

"Ja, das hat Milan mir auch schon gesagt.", antwortete ich ihr. Alice schien nett zu sein, doch ich wurde das Gefühl nicht los, dass sie mir nicht sagen wollte, was in diesem Ordner stand.

"Was ist das eigentlich zwischen dir und Milan?", lenkte sie geschickt von dem Ordner ab.

Zuerst antwortete ich ihr nicht. Zugegeben, ich wusste auch nicht was. "Gute Frage. Ich weiß es nicht. Keine Ahnung, ob man das Freundschaft oder so nennt. Aber ich hatte halt noch keinen Kumpel, der bei der Mafia ist."

"Kumpel?", fragte Alice sichtlich verwirrt. "Ja, denke schon.", entgegnete ich unsicher. Ich wusste ja selbst nicht, was Milan für mich war. Ich dachte, dass sich das im Laufe der Zeit ergeben würde. Je nachdem wie es generell mit der Situation weiter ging.

"Na komm, selbst ein Blinder sieht, dass da was zwischen euch ist.", meinte sie.

"Ich weiß ja nicht, was du siehst, aber eigentlich kennen wir uns gar nicht. Zumal könnten wir nicht unterschiedlicher sein. Ich bin eine normale Studentin und sollte nicht hier sein.", sagte ich und sah mich im Raum um.

Das war einfach nicht meine Welt. Diese teure Einrichtung und generell der Stil. Es sah zwar alles wunderschön aus, aber sowas konnte ich mir nicht mal in 40 Jahren leisten.

Alice musste lächeln: "Du klingst wie deine Mutter. Sie hat auch so reagiert." Verwirrt sah ich sie an. "Wie meinst du das?", fragte ich sie leise.

"Deine Mutter war nie von Anfang an Teil der Mafia. Nur durch die Heirat deines Vaters wurde sie Teil davon. Anfangs war sie sich auch unsicher wegen der Mafia, aber die Liebe war stärker.", erklärte sie mir und zwinkerte mir zu.

"Du kanntest meine Eltern?", fragte ich sie ungläubig. So abwegig war das zwar nicht, da Milan sie ja auch kannte, aber trotzdem war das ein befremdliches Gefühl.

Erneut musste sie lächeln. "Ja, ich kannte deine Mutter. Deinen Vater auch, aber eigentlich mehr durch die Geschichten, die deine Mutter mir erzählte. Sie war wie eine zweite Mutter für mich.", schwelgte sie in Erinnerung.

"Wieso hab ich dich nicht vorher schon kennengelernt?", kam es von mir. "Weil ich schon seit meiner Geburt Teil der Mafia bin.", sagte sie knapp.

Ich merkte, dass das ein Thema war, über das sie nicht reden wollte. Das konnte ich verstehen, sie kannte mich ja nicht. An ihrer Stelle hätte ich auch nicht direkt alles erzählt.

Vielleicht musste ich einfach ein bisschen abwarten, wenn wir uns besser kannten, erzählte sie mir vielleicht mehr. Vorausgesetzt, ich würde noch länger hier bleiben und hätte somit die Möglichkeit, sie überhaupt kennenzulernen.

"Wo ist eigentlich Milan?", wechselte ich nun das Thema. Schließlich suchte ich ihn ja immer noch.

"Er hat gerade einen Termin und ist nicht hier. Allerdings müsste er demnächst wieder da sein. Wenn du willst, kannst du auf ihn warten.", antwortete sie mir freundlich.

Ich nickte. "Wenn du willst, kannst du auch hinten zum Garten raus gehen. Dort hat man eine schöne Aussicht auf das Meer. Zudem sind dort Sitzmöglichkeiten, die dir das Warten erleichtern könnten.", schlug sie mir vor.

"Das klingt doch gut.", sagte ich freudig, da ich gefühlt seit Ewigkeiten nicht mehr draußen in der Sonne war.

"Wenn Milan wieder hier ist, sag ich ihm Bescheid, dass du draußen auf ihn wartest.", sagte sie und führte mich durch das Wohnzimmer zu einer Glastür. Diese führte unmittelbar in den Garten.

"Okay, danke.", erwiderte ich und Alice nickte mir noch einmal zu, ehe sie wieder verschwand.

Nun war ich wieder alleine. Naja, mehr oder weniger. Denn kaum als ich draußen war, fielen mir zwei Männer auf. Sie waren dunkel gekleidet und trugen eine schwarze Sonnenbrille.

Die beiden standen an einer kleinen Zauntür, die vermutlich Richtung Vorgarten führte. Also auf Sicherheit wurde hier ja wirklich geachtet.

Doch ich ließ mich davon nicht beirren und steuerte geradewegs eine schicke Liege an. Auf dieser lag ein grünes Kissen und eine passende dünne Decke.

Sofort nahm ich dort Platz und schaute auf das weite Meer. Von hier hatte man wirklich einen super Ausblick. Da Milans Anwesen auf einem Berg lag, war das Meer ziemlich weit unten. Es wirkte so, als würde man an einer Klippe stehen. Dieser Mann musste ja echt reich sein.

Als ich gefühlt alles bestaunt hatte, was es hier zu sehen gab, legte ich mich ganz auf die Liege. Es war einfach ein schönes Gefühl, die Sonne auf meiner Haut zu spüren.

Ohne das es meine Absicht war, verfiel ich einem Schläfchen und driftete ab in das Land der Träume. 

Life with secrets and liesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt