In den ersten Minuten war es ruhig. Dann begannen die Dinge schief zu gehen. Sie lehnte an einer Betonwand hoch über einem großen Raum, während sich ihre Augen noch an das schummrige Licht gewöhnten. Rauch stieg von ihrer Ausrüstung auf. Bisher hatte sie keine Wachposten gesehen, doch das hatte nichts zu bedeuten. Selbst wenn die Menschen hier nicht mit einem Einbruch rechneten, mussten sie sich gegen die Cyborgs verteidigen. Cress wartete einige Minuten, bis sie die Systematik der Wachposten durchschaut hatte. Sie standen an Schießscharten im Erdgeschoss. Vermutlich hatten sie alle die Hand am Abzug und das nicht wegen Cress. Man hörte den Regen gegen das Dach des Vorbaus hämmern, so stark war er geworden. Cress hoffte für den Prinzen, dass er sich einen Unterschlupf gesucht hatte, wo es ihm nicht die Haut vom Leib brannte. So leise sie konnte schlich sie auf der Galerie entlang. Die Metallstreben waren rostig und bei jedem unbedachten Schritt hätten sie Cress verraten können. Sobald man sie entdeckte, lief sie Gefahr, hier eingesperrt zu werden. Das war fast noch schlimmer als darauf zu warten, dass die Cyborgs kamen. Sie sah die Männer unter sich. Wenn sie aus der Stadt kamen, musste es ein Schock sein, hier mit den Monstern aus der Tiefe konfrontiert zu werden.
Ein Pfiff ertönte. Cress fuhr in Richtung Wand zurück. Begleitet von rotem Signallicht begannen sich die Luken zu schließen, durch die sie eingestiegen war, um den Regen auszusperren. Das Geräusch, mit dem sie zufielen war endgültig wie das Schließen eines Sargdeckels. Monster und ätzenden Regen waren ihr nicht fremd, aber eingesperrt werden löste eine neue Art von Angst in Cress aus. Sie war Kilometertief in den Narben in der Gegenwart derselben Soldaten, die von den Brücken aus auf sie geschossen hatten. Die Soldaten, die auf brutalste Weise Geister töteten, um zu sichern, dass sie gefürchtet wurden. Cress war so vorsichtig, wie möglich auf ihrem Weg zur anderen Seite, doch sie kam sich sehr laut vor. Zweimal war der Weg unterbrochen und wenn sie nicht aufgepasst hätte, wäre sie direkt ins tödliche Zentrum der Aufmerksamkeit gestürzt. Bei jedem Knarren des alten Metalls war sie sich sicher, entdeckt zu werden. Als sie den Zugang erreichte, den sie ausgesucht hatte, war sie durchnässt von frischem Schweiß.
Man hatte brachial Stollen in den Fels geschlagen. Ursprünglich hatten sie nach einem gesucht, der sie direkt in das Herz des Komplexes brachte, aber sie waren alle Sackgassen. Der einzige Weg hinein führte über den Vorbau. Der einzige Weg hinaus ebenfalls. Lüftungsschächte, Rohrsysteme, Wartungstunnel, nichts davon gab es in weiten Teilen des Geländes. Nico hatte Cress Sauerstoff mitgegeben. Es war eine relativ kleine Flasche, aber sie könnte ihr das Leben retten, wenn sie irgendwo eingesperrt wurde. Sie hielt sich in den Tunnels, die laut den Adligen die geringste Aktivität aufwiesen. Woher sie das wussten, hatten sie Cress nicht gesagt. Sie hatten von einer Festung gesprochen, einem Komplex. Doch jetzt, wo sie durch diese Gänge lief, fühlte es sich mehr an wie ein Bergwerk. Oder ein Grab. Cress musste schnell sein. Sie hatte 500 Meter Gang ohne irgendeine Art von Deckung vor sich. Sie ließ einen vereinzelten Wachposten vorbei. Er kam so nah, dass sie hörte, wie er sich räusperte und auf den Boden spuckte. Cress wartete, bis es still wurde. Die 500 Meter fühlten sich an wie Kilometer, doch sie schaffte es unbemerkt. Als sie den Gang zum Herzen des Komplexes entlang lief, bog sie um eine Ecke und wäre beinahe ausgerutscht. Keuchend blieb sie stehen.
„Der Plan stimmt nicht."
„Inwiefern?", fragte Julian. Seine Stimme war verrauscht.
„Der Zentralgang ist eingestürzt."
Cress stand vor einem mehrere Meter hohen Schutthaufen. Er war vermutlich noch nicht alt, denn es stand genug Werkzeug herum, um vermuten zu lassen, dass die Soldaten bis vor kurzem hier aufgeräumt hatten. Vor dem Regen.
„Ich leite dich außenherum."
Falls das überhaupt möglich war, wenn die Pläne nicht mehr stimmten. Cress dachte, sie hätte ihre Angst unter Kontrolle. Sie tat ihr bestes. Doch zu sehen, dass diese Gänge wirklich so Einsturzgefährdet waren, wie sie aussahen ...
Sie beschloss, sich einen Weg außenherum zu suchen. Wich weiteren Wachposten aus und schlich an einem Raum vorbei, in dem Soldaten zusammensaßen. Wie viele waren hier? Sie dokumentierte jeden Mann, den sie sah. Alles, was sie sah. Cress entfernte sich weit von den Soldaten, lief dunkle Gänge hinunter, die so verlassen wirkten, als wären sie seit dem Erbauen des Bunkers nicht mehr betreten worden. Doch das stimmte nicht.
Als Cress in die Höhle trat, die sie ansteuerte, wurde es gleißend hell. Sie hatte das Nachtsichtgerät bereits abgenommen, aber ihre Augen waren an das Zwielicht der Gänge gewöhnt. Sie hob den Arm, um sich gegen das gleißende Licht abzuschirmen. Sie erwartete eine Schmiedeesse oder etwas ähnliches, aber das war es nicht. In der Mitte des Raums brannte ein handtellergroßes Feuer. Die Hitze der Flamme war unnatürlich stark. Cress konnte sich kaum auf drei Meter nähern.
„Julian", murmelte sie. „Etwas stimmt hier nicht."
Es war lange still am anderen Ende der Leitung, als sie ihm beschrieb, was sie sah, während sie um den Raum herumschlich. Der Stein unter dem Feuer war geschmolzen und blubberte glühend, soweit sie das sehen konnte.
„Das ist die Flamme des Ordens", sagte Julian. „Verlass diesen Raum, wenn du kannst."
Cress legte den Kopf in den Nacken. Vielleicht war der Raum deshalb so hoch, weil sich die Flamme durch den massiven Stein gefressen hatte. Durch den Stein, der das Leben der Geister zwischen seinen Wänden einrahmte. Unerbittlich, unbeweglich.
„Gib mir eine Sekunde", sagte Julian. „Kannst du das?"
Cress nickte. Sie zog sich so weit zurück an den Rand des Raums, wie sie konnte. Trotzdem fühlte sie sich, als würde sie bei fünfunddreißig Grad in der Sonne liegen. Es reichte nicht, dass diese gefährliche Erinnerung, die Julian suchte, an diesem sterneverlassenen Ort war. Jemand hatte einen Ableger des himmlischen Feuers, das der Adel nur zu gerne als Waffe einsetzen würde, aber dafür deutlich zu wenig unter Kontrolle hatte, in die Narben gebracht. Und als Cress versuchte, die Tür zu öffnen und der Hitze zu entfliehen, bewegte sie sich nicht mehr.
DU LIEST GERADE
Skythief - Gefallene Sterne [2024 Version]
Science FictionIn den Narben, tiefen Schluchten am Rande der Hauptstadt eines Imperiums in der Zukunft, ist Cress Cye als rechte Hand eines Verbrecherfürsten gefürchtet. Die alten Monster, die dort in den Tiefen leben, kennt sie gut. Doch als eines davon so viel S...