Nico und Julian hatten Zeit gefunden, um gemeinsam rudern zu gehen. Sie waren weder so schnell, noch so determiniert wie sonst. Julian war bei weitem noch nicht stark genug für ihre übliche Strecke und er hinkte wieder schlimmer. Gerudert hatten es als Jugendliche viel, manchmal zu zweit, manchmal in größeren Besetzungen mit ausgewählten Gardisten. Der König fand es albern, deshalb hatten sie nie damit aufgehört. Es gab ihnen das gute Gefühl, entkommen zu können, auch wenn jeder See ein Ufer hatte und dort Menschen auf sie warteten. Der Wasserspeicher barst immer wieder unter den Ruderschlägen, während sie über den spiegelglatten See zogen. Sie hielten immer irgendwo auf dem offenen Wasser inne. So weit weg vom Palast, wie man sein konnte, ohne die Kuppel zu verlassen. Juli hatte erzählt, dass der Geist hier angekommen war. Dass der geflügelte Cyborg es irgendwie von mehreren Plasmarunden getroffen unter die Kuppel geschafft hatte. Nico lehnte an der Wand des Bootes und wartete, bis sie beide etwas zu Atem gekommen waren. Obwohl ihm bis eben warm gewesen war, zog er jetzt seine Jacke über. Sie war aus schwerem altem Leder. Hatte seinem Vater gehört und roch immer noch nach dessen Pfeifentabak. Sie gab ihm das Gefühl, ein wenig beschützt zu sein, bevor er Julian ansprach. Den Schutz würde er brauchen.
„Hat sie dir von dem Geist erzählt?"
Bei dem Blick, der er ihm zuwarf, war klar, dass die Antwort ‚Nein' lautete. Nico fühlte etwas wie Überlegenheit. Julian würde René heiraten und Nico war Victoria näher, als Julian. Es war alles verdreht. Er konnte nicht widerstehen, obwohl er wusste, dass er es nicht ansprechen sollte.
„Sie hatte einen Freund in den Narben, einen Geliebten. Der Joker der Herzgilde, wenn ich raten müsste."
Er sah, wie sein Cousin nickte. Was er dachte, konnte Nico nicht genau erahnen. Er hatte mit einer heftigeren Reaktion gerechnet. Alleine, weil Cress von allen Menschen ausgerechnet Nico ausgesucht hatte, um sich ihm ein Stück weit zu öffnen. Sie hatten die Rivalität nie ganz abgelegt, die Nico von Julian übernommen und ihr gespiegelt hatte. Jetzt führte das witzigerweise dazu, dass er selbst wohl die größte Feindschaft mit dem Geist am Laufen hatte, während Julian ... ja, was tat Julian? Er wusste es vermutlich selbst nicht genau.
„Er hat sie niedergestochen", sagte Nico in Richtung seines Cousins.
Das schlug ein. Julian hob das Kinn und sah weiter geradeaus Richtung Horizont. Nico erwartete halb, dass die Kuppel unter seinem Blick zu brennen begann. Es war nur ein Aufflackern, aber vor drei Jahren hatte Julian auch so ausgesehen. Nico bewunderte ihn für seine Selbstkontrolle. Früher war das nicht so gewesen. Wenn der siebzehnjährige Julian hier stände, sähe die Welt anders aus. Macht war eine seltsame Liebhaberin.
„Wie sicher bist du dir, dass es sich um den Joker der Herzgilde handelt?", fragte sein Cousin.
Nico fröstelte.
„Ziemlich sicher. Sie hat gesagt, dass er sie beschützt hat. Wer sonst würde sie genug beeindrucken? Und wer sonst wäre der Herzdame treu genug ergeben, um sie auf Befehl niederzustechen?"
Nico kannte den Ausdruck auf Julians Gesicht. Er bedeutete, dass ein weiterer Name auf der Liste mit Menschen landete, die früher oder später sterben würden. Nicht sofort, erst musste seine Wut abkühlen. Doch er hatte treue Soldaten unter seinem Kommando, noch circa Siebzig Jahre Zeit bis zu seinem Tod und würde diese nutzen, um mit akribischer Sorgfalt die Menschen zur Rechenschaft zu ziehen, die seinen Freunden und seiner Familie weh taten. In diesem Fall früher als später, wie Nico ihn kannte.
„Denkst du, sie hasst mich, wenn ich ihn holen lasse?", fragte er auch gleich. „Oder die Herzdame?"
„Sie wird dich fürchten", warnte Nico. „Das hilft dir nicht."
„Ich beginne, mich selbst zu fürchten", sagte Julian leise und griff wieder nach den Rudern.
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Skythief - Gefallene Sterne [2024 Version]
Science FictionIn den Narben, tiefen Schluchten am Rande der Hauptstadt eines Imperiums in der Zukunft, ist Cress Cye als rechte Hand eines Verbrecherfürsten gefürchtet. Die alten Monster, die dort in den Tiefen leben, kennt sie gut. Doch als eines davon so viel S...