Wenn die Menschen der Peripherie eines fürchteten, dann war es der Regen. Er kam nicht in Tröpfchen, sondern in Fäden aus den Wolken herabgeschossen. Was er berührte, starb. Nur die wenigsten wagten sich nach draußen, wenn Wolken aufzogen. Besonders klug war es nicht, nicht einmal für das Duo, das sich einen Weg durch die Dunkelheit suchte.
„Eine halbe Meile nach Norden", sagte Kieran und senkte sein Nachtsichtgerät. Seine Stimme klang gedämpft durch die Atemmaske und wurde beinahe verschluckt vom Trommeln des Regens. Es war das erste Mal seit drei Stunden, dass er sprach. Cress Muskeln waren steif geworden in der feuchten Kälte. Denn der Regen war zu allem Überfluss auch noch eiskalt.
„Fliegst du?", fragte Kieran. Der Mann überragte Cress um zweieinhalb Köpfe und hatte neulich nach einer verlorenen Wette mit bloßen Händen eine Wand eingerissen. Dass er zu schwer war für das, was sie gleich tun würde, stand außer Frage. Cress sah auf zu den schwankenden Seilen über sich und dann zu denen, die weiter unten zwischen den Felsen gespannt waren. Sie legte zwei Finger an das Seil, das ihr am nächsten war, um zu testen, ob es vibrierte.
„Siehst du Konkurrenz?", fragte sie.
„Circa dreißig Mann."
Cress Cye verzog die Lippen. Sie war nicht scharf darauf bei Regen den Weg über die Seile zu nehmen. Doch sie hatten teure Beute heute Nacht und es würde sie teuer zu stehen kommen, wenn sie nicht mit dem zurückkamen, was ihr Patron sich wünschte.
„Deck meine Flanke", murmelte Cress, während sie ihre Handschuhe nachzog. „Wenn sie Scharfschützen an der nächsthöheren Marke haben, will ich das nicht erst erfahren, wenn ich falle."
„Aye, Elster."
„Lass mich nicht hängen, ich mein's ernst."
Der Hüne nickte. Dabei tanzte das Tattoo des Kartenkreuzes, das man ihm quer über die Kehle gestochen hatte. Cress trug es klein und unauffällig am Oberarm. Das war gut so, man prahlte schließlich auch nicht mit seiner vierten Hochzeit. Vor allem nicht, wenn es statt um Liebe um Zugehörigkeit zu einer der Banden ging und einen jeder „Bräutigam" für eine Hand voll Geld umgebracht hätte.
Cress nahm Anlauf und sprang. Sie erwischte eines der Drahtseile und der Handschuh klickte um das Seil, noch bevor sie so viel Geschwindigkeit aufgenommen hatte, dass es wehtat. Sie zog ihre Beine hinauf, um bessere Kontrolle zu haben und schoss daran entlang in Richtung des Geschehens. Die Felswände der Schlucht erhoben sich links und rechts von ihr, bis sie irgendwo mit dem grauen Himmel verschmolzen. Dazwischen funkelten die nassen Drahtseile wie Spinnweben. Cress wartete auf einem Connectormodul, einer kreisrunden Scheibe in schwindelerregender Höhe. Der Regen war abgeflaut, sodass sie unter sich die Lichter erkennen konnte. Sie spähte durch das zweite Nachtsichtgerät hinunter.
„Die Hearts sind im Westen", gab sie an Kieran weiter. Allein den Namen auszusprechen, ließ ihr die Haare zu Berge stehen.
„Woher weißt du das? Ich sehe nichts in dieser Scheiße trotz Tec", kam es kaum verständlich aus dem alten Walkie Talkie, das an ihrer Schulter hing. Cress hatte den Blick auf eine einzelne Gestalt geheftet, die sich auf der anderen Seite der Schlucht vorsichtig über die Seile hinauf hangelte. Hinter ihr kamen weitere Schattengestalten. Sie erkannte sie an ihren Bewegungen.
„Zehn sehe ich."
„Das wird böse", rauschte es aus dem Lautsprecher. Er hatte Recht. Wenn zehn so offensichtlich zum Ort des Geschehens hinauf schlichen, dann waren mit Sicherheit noch mehr in den Schatten verborgen. Die anderen Banden musste man selbstverständlich auch im Auge behalten, aber die Jünger der Herzdame waren diejenigen, denen Cress heute Nacht am liebsten aus dem Weg gehen würde.
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Skythief - Gefallene Sterne [2024 Version]
Science FictionIn den Narben, tiefen Schluchten am Rande der Hauptstadt eines Imperiums in der Zukunft, ist Cress Cye als rechte Hand eines Verbrecherfürsten gefürchtet. Die alten Monster, die dort in den Tiefen leben, kennt sie gut. Doch als eines davon so viel S...