Cress wachte auf und fühlte sich besser. Sonne hatte sie geweckt, sie lag in einem großen weißen Bett und nichts tat weh. Es war so ungewohnt, dass es sich falsch anfühlte. Vorsichtig setzte sie sich auf und wartete darauf, dass ihr lädierter Körper sich meldete. Es geschah nicht. Man hatte sie verarztet, während sie bewusstlos gewesen war. Nicht einmal ihr Schädel schmerzte mehr, obwohl es sich angefühlt hatte, als hätte Nicolas van Garde den Knochen zerschlagen. Um ihre Schulter lag ein Verband, ebenso blütenweiß wie die Bettlaken. Auch ihre Hände waren bandagiert. Man hatte ihr weite Baumwollkleidung angezogen und sie in ein Bett gelegt, dessen Ausmaße im farblosen Bezirk drei Schlafplätzen mindestens entsprochen hätten. Vor dem Fenster schwankten die Äste eines Baumes im Wind. Die Schatten der Blätter tanzten über die Wände. Cress stand vorsichtig auf, weil sie ihrem Körper immer noch nicht traute, und trat hinaus auf den Balkon. Der See erstreckte sich bis zum Horizont. Man konnte nicht mehr sehen, wo die Kuppel endete und mit ihr die Illusion. Doch Cress sah nicht zum Horizont, sondern in die Höhe. Die Sterne waren verschwunden, doch dafür stand nun eine Sonne am Himmel. Sie hatte noch nie eine gesehen. In den Narben kam nur diffuses Licht an und außerhalb der Kuppel lag in der Regel eine stahlgraue Wolkendecke über dem Himmel. Der Himmel über der Hauptstadt wusste wahrscheinlich nicht einmal, was eine Wolke war. Sie starrte so lange in das goldene Licht, bis ihre Augen tränten, bevor sie sie schloss. Es fühlte sich an, als würde man in einiger Entfernung an einem großen Feuer stehen. Vielleicht war es das alles wert, dachte sie.
Das Haus war groß und leer. Cress lief durch die Räume, wie eine Schlafwandlerin. Über honiggelbes Parkett und die weite Treppe in die Eingangshalle hinunter, in der sie Julian Alessandrini erwartet hatte. Dieses Mal brannte kein Feuer im Kamin. Cress fuhr mit den Fingerspitzen über die marmorenen Vögel, die ihn zierten. Dann wandte sie sich dem Sessel zu, in dem er gesessen hatte. Es kam ihr vor, als hätte sie es alles geträumt. Den Schmerz, den See, das Gespräch und ihren gescheiterten Fluchtversuch. Sie lehnte sich an den Sessel, wie er es getan hatte, und sah in Richtung der Tür. Cress sah sich nach allen Seiten um in der großen Halle, bevor sie hinüber lief. Sonnenschein flutete ihr entgegen, so hell, dass sie die Hand heben musste, um nicht geblendet zu werden. Der See glitzerte links von ihr, während sie am Ufer entlang lief. Kleine Wellen liefen auf einen Kiesstrand unterhalb der Felsen, getrieben von dem sanften Wind, der ihr die Haare um den Kopf wehte. Bei dem Versuch, sich ein Bild von der Lage zu machen, zog sie einmal um das Herrenhaus herum, stieg eine schmale Steintreppe hinauf und fand sich vor einer Glasfront wieder, die auf das Wasser hinausblickte. Davor, auf einer grünen Wiese, lagen große metallene Objekte. Dass es die Flügel des Cyborgs waren, erkannte sie erst beim zweiten Blick, so kaputt war der eine von ihnen. Cress wurde kalt, trotz der Sonne, die ihr den Rücken wärmte. Die Flügel lagen ausgebreitet vor dem Haus, bewegungslos, als wären sie immer schon dort in der Sonne gelegen. Diese Gebilde waren es gewesen, die Cress aus den Narben getragen hatten. Man sah die Russpuren deutlich, sah selbst auf mehrere Meter Entfernung, wo die Plasmarunden der Brücken sie gestreift hatten. Vorsichtig stieg sie hinunter. Das Gras war ungewohnt unter ihren nackten Füßen, weich wie ein Teppich. Cress sah sich die Flügel aus der Nähe an. Für einen Moment hatte sie das Haus in ihrem Rücken vergessen. Sie war sich sicher, dass niemand je so nahe an diese Flügel gekommen war, ohne zu sterben. Sie strich mit den Fingern über eine der Federn, die der glichen, die der Eremit ihr überreicht hatte. Sie waren fein gearbeitet. Wahrscheinlich hätte man alle Details nur mit der Lupe erkannt. Jede Feder schien anders, trug ein eigenartiges Muster, manche waren so blank, dass man sich darin spiegeln konnte. Sie hatten sie poliert. Niemals hätte eine Kreatur in der Tiefe etwas auf dem Rücken tragen können, das so schimmerte, ohne beim geringsten Licht entdeckt zu werden.
„Prachtvoll, nicht wahr?", fragte eine Stimme hinter ihr. Eine Frau stand auf der Terrasse. Sie hatte schräg stehende hellblaue Augen und blondes Haar bis zu den Schlüsselbeinen. Dass sie adlig war, erkannte man, obwohl sie bequeme Kleidung trug und kein blaues Zeremoniegewand.
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Skythief - Gefallene Sterne [2024 Version]
Science FictionIn den Narben, tiefen Schluchten am Rande der Hauptstadt eines Imperiums in der Zukunft, ist Cress Cye als rechte Hand eines Verbrecherfürsten gefürchtet. Die alten Monster, die dort in den Tiefen leben, kennt sie gut. Doch als eines davon so viel S...