8 - Südstadt, Flugplatz

79 20 0
                                    

Die Luft der Hauptstadt war anders, als die in den Exklaven. Der Himmel ebenso. Julian hatte beinahe vergessen, wie perfekt die Illusion war. Wie sich ewige Frühlingssonne anfühlte. Dort, wo er gewesen war, wurden die Kuppeln gerade erst konstruiert. Sie boten noch keinen Schutz vor Strahlung und Witterung. Man sollte meinen, dass es sich gut anfühlen würde, ohne Schutzanzug und Maske ins Freie treten zu können. Doch er fühlte sich nur verwundbarer, als ihm lieb war, während er über das grüne Gras lief. Es kam ihm vor, als wäre er in ein Gemälde der alten Welt hinein spaziert.

Er hatte ihnen nicht gesagt, dass er landen würde, und so erwarteten ihn keine Flaggen und Paraden. Er wusste nicht, ob er das ertragen hätte. Das letzte Mal, als er auf diesem Landeplatz gestanden hatte, war die Sonne über den Palasttürmen untergegangen und er hatte sich geschworen, niemals zurückzukehren. Auch dieses Versprechen an sich selbst hatte er gebrochen.

Kronprinz Julian Alessandrini war drei Jahre fort gewesen. Nun hatte er sich geradezu über die Hintertür des Palastes zurück in seine Heimat geschlichen. Nur einer hatte begriffen, dass er es war, dessen Gleiter unter der Kuppel durchgehuscht war. Nico sah älter aus. Er trug seinen Bart inzwischen so, wie René es ihm immer geraten hatte. Er starrte Julian an, bis dieser direkt vor ihm stand, als hielte er ihn für eine Halluzination.

„Ich habe ihnen gesagt, dass du es bist", murmelte er. „Keiner hat mir geglaubt."

Julian wollte Lächeln, doch es gelang ihm nicht richtig. Auch Nicos Augen waren verdächtig hell geworden.

„Cousin", grüßte der Heimgekehrte.

„Du kannst doch nicht einfach hier auftauchen", japste Nico, der offensichtlich mit den Tränen kämpfte. Er fiel Julian um den Hals und drückte ihn, wie ein Kind ein Stofftier an sich drückte. Dann schob er ihn auf Armeslänge von sich, hielt ihm anklagend seinen Zeigefinger ins Gesicht und sagte: „Du hast dich überhaupt nicht verändert, du bist immer noch ein provokatives As."

Das brachte Julian letztendlich zum Lachen.

„Unangekündigt hier einfliegen. Spinnst du eigentlich?"

Nico schüttelte in kleinen Bewegungen immer wieder den Kopf, während sie zusammen das Flugfeld hinunter gingen.

„Weißt du, was passiert, wenn du dich hier blicken lässt?"

„Ich versuche den Trubel hinauszuzögern."

„Ja, das macht dir das Leben vielleicht leichter, aber ich wäre fast an einem Herzinfarkt gestorben. Ich bin achtundzwanzig."

Es war alles Spaß. Nicos Freude über die Rückkehr seines Cousins war ungetrübt.

„Ich hatte mir fast gedacht, dass du die Schleusen im Blick hast."

„Da kannst du drauf wetten. Ich habe jeden Tag gehofft, dass ja dein Schiff unter den Ankommenden sein könnte."

Julian nickte. Nico sagte es nicht, damit er sich schuldig fühlte.

„Und da bist du. Aus dem Nichts. Ich hatte mal wieder Recht, aber es hören ja immer reichlich wenige Leute auf mich."

„Ich habe schon auf dich gehört. Ab und zu."

„Deswegen habe ich dich ja auch so vermisst."

Julian hatte sich Sorgen gemacht, dass alles anders sein könnte. Doch Nico war derselbe, den er verlassen hatte. Und er schien es ihm nicht übel zu nehmen, dass er sich ins Exil abgesetzt hatte.

„Hast du das auch vermisst?", fragte Nico, als sie oben auf der nördlichen Anhöhe standen und zum ersten Mal freien Blick auf den Palast hatten.

„Kein bisschen", antwortete der Kronprinz.

Julians Blick wurde stumpf. Er wusste, dass er sich seinem Vater stellen musste, er hatte sich drei Jahre darauf vorbereitet, aber das hieß nicht, dass er sich darauf freute.

„Ich habe etwas zu tun, bevor ich ihn treffe."

Nico runzelte die Stirn. Dass es etwas gab, das eine höhere Priorität hatte, als dem König der letzten Menschen seine Aufwartung zu machen, war nicht wahrscheinlich. Vor allem, wenn man sein Sohn war und vor Jahren ohne Abschied ins Exil gegangen war.

„Was soll das sein?"

„René."

„Lass mich mit dir kommen. Du weißt nicht, ob jemand dich herausfordert."

Julian lachte nur.

Einige Minuten später schritt er alleine einen langen Flur hinunter. Die Freiheit, ohne seine Männer unterwegs zu sein, war etwas, was er nur auf den Schiffen und hier, im Herzen des Reichs, hatte. In den Kolonien waren ihm zu jeder Tages- und Nachtzeit Leibgardisten auf den Fersen. Er genoss ihre Abwesenheit. Sie wären unangebracht gewesen für das, was er nun vorhatte. Der Südflügel tauchte vor ihm auf. Unter den Blicken der Marmorstatuen alter Könige schritt er immer noch in seiner Uniform auf eine Doppeltür zu. Die beiden Gardisten links und rechts machten große Augen, als sie ihn kommen sahen. Die Angst, die sie verströmten war beinahe riechbar. Sie warfen sich einen Blick zu, als würden sie überlegen ihn aufzuhalten, doch Julian hatte bereits geklopft. Eine untypische Geste für einen Adligen.

„Danke, abtreten."

Sie gehorchten, wohl mehr aus Schock als aus irgendeiner anderen Motivation. Julian wartete zwei Herzschläge, dann riss er die schwere Tür auf. Sie schwang nach innen und offenbarte ein Bild, das der römischen Dekadenz entsprungen schien. Halb bekleidete Körper, Teller voller Essen und silberne Karaffen voller Wein. Die schönsten Söhne des Hochadels lagen in mehr oder weniger komprimitierenden Situationen im ganzen Raum verteilt auf Triclinia. Manche schreckten auf wie Hasen, als sie die öffnende Tür hörten, andere waren zu beschäftigt und sahen erst auf, als einer der Männer aufschrie. Sie schossen in die Höhe, versuchten sich schnellstmöglich in eine zivilen Zustand zu versetzen, was die Situation meist verschlimmerte. Einige salutierten, andere schluckten vernehmlich. Bei manchen war sich Julian nicht sicher, ob sie sich ins Koma getrunken hatten, oder bei seinem Anblick in Ohnmacht gefallen waren.

„Ist jemand hier, der Anspruch auf die Hand meiner Braut erhebt?", fragte er in den Raum. Es war provokant, nicht zu schreien, nicht seine Wut auf sie herabsausen zu lassen, wie sie es erwarteten. Doch Ruhe konnte noch bedrohlicher sein. Niemand hier wusste, wie sich sein Temperament verändert hatte während seiner Reisen. Niemand wusste, zu was er fähig war. Jungen, mit denen er das Kämpfen gelernt hatte, mit denen er aufgewachsen war, sahen ihn an wie einen Fremden. Viele hatten begonnen zu zittern. Er ließ sie zappeln, drehte sich einmal im Kreis, um alle Gesichter in Augenschein zu nehmen.

„Dann sehe ich keinen Grund, wieso ihr sie belagert und meinen Wein trinkt."

Er verlieh seiner Stimme ein Crescendo, ließ sie von dem Kosten, was er auf sie loslassen könnte, um sie dann mit einem: „Geht." zu entlassen. Er musste nicht schreien, damit sie rannten. Die Stolzesten, die Mutigsten jungen Stecher des Hochadels stolperten betrunken aus dem Vorzimmer und hinaus auf den Gang. Erst, als sie alle verschwunden waren, wandte er sich der Frau zu, die die ganze Zeit grinsend auf einem Stuhl im Zentrum des Aufruhrs gesessen hatte. Sie brach in Lachen aus, sobald sie niemand mehr hörte.

„Hallo, Reisender", grüßte René, seine Verlobte, „Haben die Götter dich letztendlich heimgeschickt?"

Skythief - Gefallene Sterne [2024 Version]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt