Finja Arete hatte nicht damit gerechnet, dass es schwer werden würde, das Versprechen, das sie Julian gegeben hatte, einzuhalten.
„Sie ist sicher hier", hatte sie ihm geschworen, selbst noch in ihrem grünen Morgenmantel. Julian wusste es sicher besser, als das als Zeichen der Wehrlosigkeit anzusehen.
„Garantiert Ihr mir, dass niemand dieses Haus betritt, während meiner Abwesenheit?", hatte er gefragt, obwohl seine Soldaten bereits Stellung um das Anwesen bezogen hatten. Finja hatte sie von der Terrasse aus auf den Klippen, bei den Rosenbögen und am Morgenpavillon gesehen. Es war die Reserve seiner Leibgarde, Männer, die man durch eine der schlimmsten physischen Ausbildungen der Kasernen getrieben hatte. Einige von ihnen hatten sogar Lektionen im Atheneum erhalten, das eigentlich dem Adel vorbehalten war. Denn Finja und Julian hatten zwar mehr über Kriegsstrategie gelesen, aber diese Männer hatten mit Sicherheit mehr getötet als sie beide. Wobei? Finja sah zu Julian hinüber. Er hatte nicht viel darüber gesprochen, was er in den Kolonien getan hatte. Einer seiner Offiziere hatte ein Gerücht von einem Aufstand verbreitet, ob absichtlich oder unabsichtlich wusste sie nicht. Genauso wenig, ob sie ihn in einer anderen Welt vor ein Kriegsgericht stellen müsste. Momentan hatte er in jedem Fall mit größter Selbstverständlichkeit ein Dutzend Killer auf ihr Anwesen gestellt, die ihm treu ergeben waren, ohne sie zu fragen. Außerdem hatte er sie gebeten, ihre Termine abzusagen und heute hier zu bleiben, als persönlicher Wachhund für die aus der Hölle zurückgekehrte. Sie hatte es getan, aber ihre Geduld wurde schmäler. Sie liebte Julian, aber so viele Gefallen, wie er eingefordert hatte, würden ihr an seiner Stelle das Genick brechen. Denn ja, er war in die Narben gesprungen und er wäre dortgeblieben, wenn Nico und sie nicht ohne Rücksicht auf Verluste hinterhergeprescht wären.
„Sieh mich nicht so an", seufzte er.
„Ich hätte auch Männer gehabt, um sie in meinen Garten zu stellen."
„Kein Zweifel, aber die erstatten deinem Vater Bericht. Ich hätte ihn ungefähr so gerne hier in meinen Angelegenheiten wie meinen eigenen Vater."
Sie ruckte unwillig mit dem Kinn. Er hatte wahrscheinlich nicht Unrecht. Neuigkeiten von diesem Kaliber würden ihren Weg früher oder später aber sowieso an die Ohren des Barons von Arete finden. Auf Finjas Schreibtisch stapelten sich seine Briefe, obwohl er nur etwa hundert Kilometer vom Palast zur Insel fliegen müsste. Mit einer Karavelle dauerte das nicht lange, Julian tat es aktuell jeden Tag. Er flog immer andere Strecken und hatte immer andere Gründe für seine Abwesenheit. Einmal kam er mit einem Fürst, der seinem Vater treu ergeben war, ließ sie die Wachen abziehen, bevor er eintraf und diskutierte mit ihr und dem Mann, der sofort jedes Wort an den König weitergeben würde, über eine Reform des Justizsystems. Was für Nerven, dachte sich Finja, während sie einer unendlichen konservativen Tirade zuhörte, Was für Nerven er hat, jemand Königstreuen hierher zu bringen, wenn er genau weiß, wer im zweiten Stock im Südflügel schläft.
„Mein Vater hat genug zu tun mit euren hübschen Kolonien."
Er nickte nur und ging nicht auf die Spitze in ihren Worten ein.
„Ich bin morgen zurück", hatte er sich verabschiedet, während er zur Tür ging und seinen Mantel überwarf. Finja beobachtete seinen Rücken. Als sie ihn aus den Narben gezogen hatten, hatte er kaum noch Haut dort gehabt, weil er den Fall hatte brechen müssen. Er musste immer noch Plasmabinden unter dem Hemd tragen. Jeden Abend kam er in die Villa, ließ ihren Leibarzt nach den Wunden sehen und jeden Morgen ging er wieder, um Hände zu schütteln und seine offiziellen und inoffiziellen Aufgaben langsam von denen zurückzusammeln, an die sie in seiner Abwesenheit gefallen waren. Er war so sehr zum Raubtier geworden, dachte sie, dass er auch dann noch seine Krallen schärfte, wenn er verwundet am Boden lag.
„Sieh mich nicht so an", rief er noch einmal zu ihr zurück.
„Als Vorwarnung", antwortete sie, während sie mit dem Zeigefinger Staub von einem der Tischchen vor dem Kamin wischte. Die Dienstboten durften immer noch nicht herein. „Wenn du mir weiter Befehle in meinem eigenen zuhause gibst - in dem ich bald auch noch selbst putzen muss, wie es aussieht, weil du es dir unter den Nagel gerissen hast – dann kannst du noch dreimal in die Narben springen und ich werde es dir sicher nicht verzeihen."
„Hm", machte er nur abgelenkt und verschwand nach draußen. Er hatte ihr sicher nicht zugehört, sonst hätte er seinen tadelnden Blick aufgesetzt, unter dem die größten politischen Schwergewichte zu wackeln begannen. Julian war auf dem Weg zu einem Termin mit seinem Vater. Er war immer unnahbar und abgelenkt, wenn das der Fall war, als müsse er die für den König handgeschneiderte Maske zwanghaft schon aufsetzen, wenn er nur daran dachte, im gleichen Raum zu stehen. Finja verstand das und ließ ihn laufen. Mit Masken und Vätern kannte sie sich aus. Wie die meisten Gedanken, die ihr durch den Kopf schwirrten, waren auch diese nicht erfreulich. Deshalb setzte sie sich an den Schreibtisch, den der Baron ihr zum Abschluss am Atheneum geschenkt hatte, und begann zu arbeiten, während draußen die Grillen zirpten. Gerade als sie zum kniffligen Teil des aktuellen Falls kam, hörte sie Triebwerke und merkte auf. Jemand war gelandet, ohne sich davor bei ihr anzukündigen. Eine Frechheit, die sie nur dem Prinzen zutrauen würde. Dieser hatte sich allerdings erst für morgen angekündigt. Hatte Julian am Ende mit seinem Gerede ihren Vater heraufbeschworen? Finja sah von ihrem Arbeitszimmer aus nicht auf den Landeplatz, lief über die Länge des gesamten Flurs und in das Gästezimmer, das der Kronprinz in Beschlag genommen hatte. Es war ohnehin kaum zu erkennen, dass er hier war, bis auf zwei Bücher auf dem Nachttisch und seine Wäsche im Schrank, also sah sie keinen Grund es nicht zu tun. Finja spähte durch das große Fenster hinunter auf das Schiff, das soeben angekommen war. Es stand unten an den Klippen, aber niemand lief den steilen Pfad herauf. Es könnte wirklich Julian sein, aber er wäre von unten heraufgestiegen. Finja drehte sich auf dem Absatz um, hob im Vorübergehen die beiden Bücher vom Nachttisch und sprintete zurück in ihr Arbeitszimmer, wo das Funkgerät lag, das Julian ihr gegeben hatte.
„Versteckt euch", funkte sie. „Bleibt an Euren Positionen, aber macht euch unsichtbar."
Die Gardisten bestätigten. Finja rauschte zum Zimmer, in dem der Geist lag und scheuchte die beiden Wachposten davor ins Innere.
„Niemand kommt durch diese Tür, verstanden? Niemand."
Julian hatte sie wohl gut genug geimpft, bevor er gegangen war. Niemand widersprach ihr, obwohl sie sämtliche militärische Kommunikationsregeln brach. Finja öffnete ihre Haare auf dem Weg nach unten und setzte einen mürrischen Gesichtsausdruck auf. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals. Es war kein königstreuer Politiker, der gerade unangemeldet auf ihrer Insel aufgeschlagen war. Es war jemand, der den Palast so selten verließ, dass der Rest der Welt vergessen hatte, dass dies überhaupt möglich war.
„Prinzessin", grüßte Finja und begann zu hoffen, dass sie am Ende des Tages ihren Kopf noch auf dem Hals tragen würde. „Welche Ehre."
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Skythief - Gefallene Sterne [2024 Version]
Ciencia FicciónIn den Narben, tiefen Schluchten am Rande der Hauptstadt eines Imperiums in der Zukunft, ist Cress Cye als rechte Hand eines Verbrecherfürsten gefürchtet. Die alten Monster, die dort in den Tiefen leben, kennt sie gut. Doch als eines davon so viel S...