55 - Palast, Thronsaal

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Ihr Leben wäre um einiges leichter, wenn sie endlich aufhören würden damit, Bälle und Paraden zu Julians Ehren zu halten. In Renés Ohren rauschte es. Sie sah zu, wie er mit einer von Olivers Schwestern tanzte. Unbeholfener als normalerweise, aber immerhin konnte er wieder laufen. Später würde er es bereuen: das Tanzen, das Lächeln, jede Bewegung, die ihn auslaugte. René hatte nicht die leiseste Idee, was er tun würde. Der Junge, mit dem sie seit frühster Kindheit ihre Sommer verbracht hatte und den sie heute wie damals im Wettreiten besiegte ... sie erkannte ihn nicht wieder. Die Welt glaubte, genau das zu tun. Julian hatte sich beinahe in mönchhafte Bescheidenheit gekleidet die letzten Wochen. Immer schwarz, meist keine Krone. Das war Taktik gewesen, um seinen eigentlichen großen Auftritt vorzubereiten. Auch das Kollier um Renés Hals hatte er taktisch platziert. Ein Auftakt. Heute Nacht war es vorbei mit Demut und Unauffälligkeit. Als er eingetreten war, war es beinahe Gotteslästerung. Er sah aus wie ein Stern, was dem Orden nicht gefallen dürfte. Sie sahen die Diamanten aus Katania, die Julians Umhang bedeckten, von seinen Ohren hingen und seine Hände schmückten. Alles an ihm funkelte. Sie sahen den Reichtum, den er mitgebracht hatte. Die Macht hinter dem Glitzern, die Leere hinter der Macht. Er trug mehr Juwelen als jede Dame im Raum und trotzdem oder gerade deshalb war er angsteinflößend. Es war nichts Eitles an ihm. Es ging nicht um das Funkeln, es ging um die Steine. Einen einzigen Diamant zu bekommen war eine Kraftanstrengung. Er trug tausende davon. Ein großer Mann, der in Blutdiamanten badete. Sie warfen Reflexe auf alle, die ihm nahekamen, um ihm die Hand zu schütteln. René stellte ihr Getränk zurück auf das Tablett eines Kellners. Sie brachte es nicht einmal mehr über sich Alkohol zu trinken, aus Angst, dass er ihr wieder hochkommen würde. Er wirkte wie jemand, der am Boden angekommen war. Keine Rücksicht mehr. Oliver Bernadotte neben ihr beobachtete des Schauspiel mit gemischten Gefühlen.

„Er sieht stabil aus", sagte er. „Den Umständen entsprechend."

Sie wussten beide, dass das nicht der Fall war. René hakte sich bei Oli unter. Seine Nähe beruhigte sie, während sie Julian beobachteten. Er war das Zentrum des Raums, alles schien um ihn zu routieren, obwohl er immer noch angeschlagen war. Der König wirkte kleiner, älter, neben ihm. Was ihm sicher nicht gefiel.

„Wo soll das hinführen?", fragte Oli kopfschüttelnd. „Was tut er?"

„Vielleicht hätte er nicht zurückkommen sollen", murmelte René.

Oliver warf ihr einen schrägen Blick zu.

„Ich denke, dass es für ihn besser gewesen wäre, wenn er dort geblieben wäre. Weit weg. Irgendwo wo es, wenn er verletzt wird, nicht dieser alte Schmerz ist. Alles andere muss besser sein."

„Glaubst du, dass es dich glücklich machen würde, wegzugehen?"

René blinzelte irritiert. Diese Frage hatte sie sich noch nie gestellt. Ihr Thron war hier. Ihr Thron. Allein der Gedanke ließ ein aufgeregtes Prickeln durch sie laufen.

„Die Intrigen, die Macht. Was wäre ich ohne sie? Aber er war mit sich selbst mehr im Reinen, als er in Katania die Kuppel gespannt hat."

„Und im Kampf?"

Vermutlich nicht. René verzog den Mund. Oliver hatte Recht. Sie hatte Julians Zeit in den Kolonien zu einseitig betrachtet. Vielleicht hatte seine banale Taktik besser funktioniert als sie wahrhaben wollte und auch ihr den Kopf verdreht. Wenn er aussah wie ein rächender Gott, dann musste sein Blutvergießen gerechtfertigt sein. Oder?

„Du kommst aus den Wäldern, nicht aus dem Palast. Wir haben dich belächelt dafür, aber dein Blick auf die Dinge ist alles andere als bemitleidenswert. Du hast ein Leben gekannt, in dem zwischen dir und den Menschen, die du liebst, nicht drei Lakaien stehen. Hier sorgt sich niemand unmittelbar um andere. Nicht auf so einer banalen Ebene. Bei Krankheit hält niemand bei dir Wache, man hält sich von dir fern."

Sie nestelte an zwei mit Rubinen besetzten Armbändern herum, drehte sie immer wieder um ihr Handgelenk.

„Man verlernt vieles, wenn einem jeder Wunsch von den Lippen abgelesen wird", bemerkte er. „Wie hätte man Einfluss darauf nehmen sollen?"

„Wir sind besser geworden. Ich glaube, dass das an dir gelegen hat, zu großen Teilen. Wer weiß, ob Juli es sonst ertragen würde, an ihrem Bett zu sitzen."

Jemanden anzusehen, der so offensichtlich gebrochen war. René fühlte sich schuldig bei dem Gedanken, aber sie hatte gelernt geradeaus auf Situationen zu blicken in den Hallen des Atheneums. Beschönigung und Schwarzmalerei waren beide katastrophal in Momenten, die einen rationalen Blick erforderten. Auf Schlachtfeldern, im Ringen der opportunistischen Adligen untereinander und vor allem bei Katastrophen, die man nicht kommen sah.

„Es gibt wenige Ausnahmen und selbst die kämpfen damit, ihre Menschlichkeit zu bewahren. Zu fühlen, zu leiden. Es ist ein Privileg, auf verdrehte Weise, aber nach einem gewissen Maß an Leid bricht jeder. Ich habe Angst um ihn."

Erst als sie es aussprach, wusste sie, dass es stimmte.

„Ihr seid nicht so kalt, wie du denkst. Weder Julian, noch du."

„Zu kalt", murmelte René. „Ich merke es. Meine Art mit ihr umzugehen ist leichter für mich, aber verwerflich. Mein Verstand muss überleben, sage ich mir. Er ist das Wichtigste."

„Was ist mit deinem Herz?"

„Mein Herz treibt mein Blut vor sich her."

Sie beobachteten die auf- und abwogenden Kleider auf der Tanzfläche. 

„Juli wurde von Ammen großgezogen. Seine Mutter, sein Vater ... du weißt es besser als ich. Liebe ist nichts wert, wenn jeder dazu verpflichtet ist, sie dir zu erweisen."

„Ich weiß."

„Trotzdem schafft er es. Nicht taub zu werden. Nicht so sehr, wie ich es bin."

Das schätzte sie so an Oliver, er ließ sie reden. Er ließ sie die düsteren Dinge sagen, von denen sie beide wussten, dass es egal war, ob sie stimmten. Sie wurden wahr, weil sie in ihrem Kopf waren. Er versuchte nicht, sie herauszuoperieren und die Wunden zu heilen, wie Nico es getan hätte. Er ließ sie existieren.

„Ich bin so neidisch", flüsterte René. Sie hatte Tränen in den Augen, die gerade noch hinter dem Wimpernkranz verweilten.

„Ich wusste, dass ich hohe Preise zahle. Wenn ich die Krone bekomme, ist es das wert. Mein Leid. Aber wenn er bricht..."

Sie ließ den Satz unvollendet. Oliver legte ihr eine Hand auf den Rücken. Wenn Julian brach, dann würden sie alle in den Staub fallen. Er hatte so viele Stränge in der Hand und so viel Diplomatie in den Schatten betrieben. René trauerte um ihn, während er als siegreicher Feldherr durch die Menge zog. Julian hatte sich dagegen gewehrt etwas zu werden, was er nicht war. Doch Katania und nun dieser Verrat hatten wenig übrig gelassen von ihm. Zu wenig Widerstand gegen den Sog des Extremen. René sah die Verwüstung hinter den Diamanten und dem Lächeln. Bald würden andere weinen. Um ihre Töchter oder Söhne, alle, die Schuld trugen daran, was vor drei Jahren geschehen war. Die Schmerz verursacht hatten. Sie fragte sich, ob sie es wussten, während ihr Blick über lachende Adels- und Ordensmitglieder glitt. Dass wer auch immer den Tod in ein Adelshaus geladen hatte, dessen Banner heute fehlte, nicht mehr viel Zeit hatte, um seine Angelegenheiten zu ordnen. Julian würde einige der Titanen, die sich in ihrer Unbesiegbarkeit und dem Segen seines Vaters sonnten, politisch abbrechen, wie Zweige von einem Baum. Und wenn er Beweise fand, die mehr waren als Spuren ... dann würde er es bei den Schuldigen nicht dabei belassen, sie mundtot zu machen. Jedes Lächeln war falsch. Sie waren alle nichts als Wölfe unter Kristalllüstern. Vor allem Renés und Julians Familien, die bald zu einer werden würden.

Skythief - Gefallene Sterne [2024 Version]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt