47 - Arete Villa

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René de Chirouelle-Avalinis trug ein teures dunkelrotes Ballkleid, als sie in die Arete Villa stürmte. Sie war alleine, ihre Haare waren bereits kunstvoll geflochten und an all den richtigen Stellen funkelten Diamanten. Nico und Finja richteten sich auf, als die Verlobte des Prinzen in einem Rausch aus weinfarbener Seide, Gold und Edelsteinen in die Küche kam. Renés Gesicht verriet nichts davon, wie sie sich fühlte. Sie musste nicht fragen, was passiert war, ihr Blick war genug, um ihre Freunde zum Reden zu bringen.

„René, er lebt", versuchte Nico sie zu beschwichtigen. Sie schlug seine Hand weg, als er nach ihrem Arm griff. Dass sie innerlich in totaler Panik sein musste, verleugnete ihre Mimik immer noch. Sie hatte nach wie vor kein Wort gesagt. Sprachlos erlebte man sie nur selten und wenn, dann war es ein Grund zur Sorge.

„Warte", rief Nico ihr hinterher. Sie waren beide schnell, doch er erwischte sie, bevor sie die Treppe hinauf war. „Warte."

René atmete schwer.

„Geh da nicht rein", beschwor Nico sie. „Ich muss dir erst etwas erklären."

Bei jedem anderen Menschen hätte sie nicht mitgespielt. Doch es war Nico und er hörte nicht auf, egal was sie tat. Finja und er setzten sich mit der Prinzessin an den Tisch und machten ihr starken Kaffee. Renés Röcke vereinnahmten eine ganze Seite des Tischs für sich. Inzwischen war ein Hauch Wut durch ihre Maske gebrochen und sie wandte den Blick keine Sekunde von Nico ab.

„Was ist es?", fragte sie. „Wieso hat er es getan?"

Mit jedem Satz fiel sie mehr in sich zusammen, bis alle Farbe aus Ihrem Gesicht gewichen war und sie ins Leere starrte, geradewegs durch Nico hindurch. Es machte ihm Angst. Er hatte mit allem gerechnet, vor allem mit Wut, aber nicht mit dieser Stille. Sie hatten sie zwischen den Wänden gefunden, beide blutend und geschlagen. Erst Stunden später, während der sie dort gehangen hatten. Der Geist in Julians Armen, gerade noch am Leben, weil er sein Möglichstes getan hatte, um die Blutungen zu stillen. Sein Blut gegeben hatte, weil er wusste, welche Blutgruppe sie hatte. Sie hatten sie kaum auseinanderbekommen, weil seine Muskeln gekrampft hatten. Juli war ohnmächtig geworden vor Erschöpfung auf dem Flug nach oben, ein Anblick, von dem Nico nie gedacht hätte, dass er ihn eines Tages sehen würde. Er zog es vor, René dieses Detail zu ersparen.

„Wie geht es ihr?", fragte René irgendwann und griff wieder nach Ihrer Tasse, als hätte sie sich daran erinnert, dass sie Hände hatte.

„Entsprechend."

„Wie geht es ihm?"

„Ähnlich. Er wacht bei ihr und wir über ihn."

René hatte die Augen geschlossen. Sie sah so traurig aus, diese Frau, die immer Feuer und Flamme war, immer gefährlich und schnippisch. Es brach ihm das Herz. In all den Jahren, die sie sich kannten, hatte er sie noch nie weinen gesehen. So behangen mit Juwelen und doch tottraurig. Die Richterin verließ den Raum, während Nico René zu sich herüber ziehen wollte. Sie lehnte ab, nur ihre Hand voll funkelnder Ringe bekam er. Filigrane, schöne Schmuckstücke aus Rubin und Zirkon. Erst weinte sie, dann wurde sie still und dann:

„Wer war das?"

Nico starrte kopfschüttelnd ins Leere. Er spürte, wie die Wut begann unter der Haut seines Gegenübers zu kochen. Die gerechte Wut, die er so gut kannte, weil er genau das gleiche empfand. Seit er sie gesehen hatte war es da. Er hätte gerne ein Loch in die Wand geschlagen, aber es waren die Wände des Arete Anwesens und er wollte seine Hand gerne behalten.

„Das ist belanglos", sagte er tonlos. „Wir müssen die Nacht überstehen."

„All die Jahre", knurrte René. „Nico, all die Jahre ... wie konnten wir so blind sein?"

„Ich weiß es nicht."

„Wir haben versagt."

„Hör auf, ich bitte dich", er nahm ihre Hand fester. „Das hilft keinem, Juli am wenigsten."

Ihr Blick wurde weicher.

„Du bist ihm nach."

René wischte sich mit einem Seidentuch die Tränen von der Wange.

„Du bist geflogen."

Nico drehte ihre Hand in seiner, drehte die Ringe langsam um ihre Finger.

„Es war beängstigend", gestand er. „Im Schiff schon. Die Dunkelheit ist nicht wie die des Nachthimmels, sie ist beengt. Dort, wo wir waren, konntest du kaum atmen zwischen den Wänden. Es gibt kein Entkommen und was auf dich wartet, ist unaussprechlich. Die Vorstellung hinunter zu springen ... Ich hätte es nicht gekonnt."

„Ja, weil du ein bisschen Verstand hast, Sterne."

„Nein, es war keine emotionale Entscheidung, glaube ich. Er hat es abgewogen, wie er alles abwiegt. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie überlebt war ihm wohl hoch genug, um darauf zu wetten. Er war am Nähsten dran und ist einer der wenigen Menschen, die in der Verfassung sind, diesen Fall mit viel Glück zu überleben. Er hat darauf gewettet, dass sie klug genug ist, um ihren eigenen Fall genug zu kontrollieren, dass sie sich nicht das Genick bricht. Auf sich selbst, dass er sie schnell genug findet. Darauf, dass wir ihn rechtzeitig holen kommen. Er hatte in allen Punkten Recht."

Der Zirkon blitzte zwischen seinen Fingern. Er hatte geträumt von Ringen an diesen Händen. Der, den Julians Großmutter getragen hatte, funkelte an ihrem Mittelfinger. Ein blauer Stein, kleiner als die anderen, aber so viel wertvoller.

„Ihr seid solche Idioten", knurrte René. „Julian, du, die Richterin ... alle, die es wussten. So dumm hätte ich euch nicht eingeschätzt."

„Wir hätten ihn nie mit ihr absteigen lassen sollen."

„Da hast du Recht und das wäre nicht passiert, wenn du mir nicht verschwiegen hättest, was hier geschieht!"

Sie zog ihre Hand weg und stand auf.

„Ich hätte ihn festketten müssen, um ihn aufzuhalten."

„Er hätte es verdient gehabt."

Sie ging und er hörte sie die Treppe hinaufsteigen. Nico blieb alleine zurück, aufgewühlt und müde zugleich. Er wusste, dass sie Recht hatte. Die Wahrheit war, er hatte den Halt verloren. Irgendwo zwischen der unangekündigten Ankunft seines Cousins, dem Geheimnis, das er selbst ans Licht gezerrt hatte und dem Auftauchen des Geistes, war er selbst verloren gegangen.

„Was tun wir?", überlegte René. „Er kann nicht auf den Ball zu seinen Ehren gehen, er kann kaum laufen."

Sie schloss die Augen, rang einen Moment mit sich selbst und ging im Kopf wahrscheinlich genau die gleichen Grundregeln durch, wie es Nico getan hatte. Die oberste davon war ihnen allen zu jeder Tages- und Nachtzeit bewusst. Tue nichts, was den König zu sehr provoziert, wenn du deine Familie nicht in Gefahr bringen willst.

„Wir müssen mit seinem Vater sprechen. Er wird wissen, dass etwas nicht stimmt und genauso wird es der Dieb wissen."

„Du bist verrückt."

„Er ist der Einzige, der diese Feier noch so ummünzen kann, dass niemand sein Gesicht verliert. Wenn er Julians Abwesenheit zu seinem Vorteil nutzen kann, wird uns das schützen. Und Julian."

Es war das letzte, womit Nico gerechnet hätte. Obwohl er nah verwandt war mit dem Monarchen, wäre es ihm nie in den Sinn gekommen, ihm einen Teil der Wahrheit zu sagen. Ehrlichkeit und Familie waren zwei Dinge, die man besser getrennt hielt in seinen Kreisen.

Skythief - Gefallene Sterne [2024 Version]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt