Cress wusste, dass sie van Gardes Ego verletzt hatte. Dass sie einen empfindlichen Punkt getroffen hatte, wurde ihr aber erst richtig klar, als sie an einem vollkommen schutzlosen Pfeiler Kilometer für Kilometer Richtung Wasser abstieg.
Es war die Hölle. Sie hatte sich nicht einmal darüber freuen können, dass dieses Mal kein toxischer Regen auf sie niederging, denn Sonne und Wind waren ähnlich zermürbend. Es war ein weiterer strahlend schöner Tag über der Stadt, aber dieser begann und endete beim Wetter.Cress erinnerte sich, dass sie in ihren ersten Trainings in den Netzen gedacht hatte, dass nichts schrecklicher sein konnte, als in Schwärze zu fallen. Jetzt konnte sie sagen: es war nicht besser, wenn man sah, wie tief es hinunter ging. Alle zehn Meter piepte das kleine Gerät, das ihnen ihre Höhe, ihre Zeit und Dinge wie Luftfeuchtigkeit und Temperatur anzeigte. Cress hatte keine Ahnung wofür das Rohr war, an dem diese unendliche Leiter hinunter führte. Sie war außerdem maximal unvorteilhaft geschnitten. Wer auch immer das Ding entworfen hatte, schien nicht wirklich damit gerechnet zu haben, dass jemand hier abstieg. Immerhin hatte van Garde ihnen Wasser und etwas, das nach seltsamen Energieriegeln aussah, eingepackt. Es könnte schlimmer sein.
„Und, was habt ihr ausgefressen?", hatte sie den Soldaten gefragt, während ihnen oben auf der Plattform der Wind um den Kopf getost war.
„Ich spreche nicht mit Geistern."
Cress hatte in die Sonne geblinzelt.
„Aha, dann wird das eine noch unerfreulichere Angelegenheit, als ich dachte. Ich habe versucht ihn umzubringen", bot sie an. „Das hier ist seine Revanche."
Es hatte ungefähr zwanzig Meter gedauert, bis er diesen Schock verdaut hatte. Der Arme war angespannt, als könne er jeden Moment ein Kind gebären. Zweimal rutschte er fast ab, dann fand er seinen Tritt. Mochte sein, dass er ein Biest auf dem Feld war, aber Cress bezweifelte, dass er oft kletterte. Sie hing zwei Meter unter ihm und hakte die Ellenbogen hinter die Streben der Leiter, damit sie nicht vom nächsten Windstoß mitgerissen wurde. Sie würde sich nicht stressen wegen Van Gardes Deadline. Sie brauchten Cress lebendig und nach dieser Tour wäre ihr ein Seemannsgrab wahrscheinlich gerade Recht.
„Komm schon!", rief sie zu ihrer Begleitung hinauf. Die Wahrheit, die sie niemals zugeben würde, war, dass sie auf dem ersten Kilometer Spaß hatte. Oder zumindest die Ausweglosigkeit ihrer Situation so sehr akzeptierte, dass sie das Beste daraus machte. Ein Adliger flog sie zum Himmel, weil er sehen wollte, ob sie es schaffen würde wieder herunterzusteigen? Immerhin gab er ihr Leiter und Sicherung.
Als ihre Begleitung schlappmachte, noch vor der Wegmarke, die van Garde genannt hatte, musste Cress den Rucksack übernehmen. Sie hatten ihn auf der Plattform schon deutlich leichter gemacht und jetzt leerte sie noch eine Wasserflasche ins Nichts. Van Gardes Schiff holte den Soldaten ab. Man warf ihm ein Seil zu und zog ihn routiniert hinauf, während Cress jeden Muskel brauchte, um nicht von den Triebwerken davon gepustet zu werden. Die Sonne verbrannte ihr sofort wieder den Nacken, als das Schiff verschwand. Sie glaubte nicht, dass van Garde sie wirklich im Stich lassen würde. Er wollte schließlich ungern selbst in die Narben absteigen. Doch das hieß nicht, dass sie nicht sterben würde, wenn sie sich dumm anstellte.
Cress rechnete sich aus, dass sie acht Stunden brauchen würde und beinahe stimmte es. Als sie mit Müh und Not das Wasser erreichte, wurde es dunkel. Sie war durchgeschwitzt bis auf die Haut und kein Boot war in Sicht. Sie saß am Fuß der Leiter auf einem winzigen Betonblock und versuchte zu atmen, ohne dabei Schmerzen zu haben. Es funktionierte nicht. Eine halbe Stunde bekam sie, dann schickte van Garde jemanden, der sie ins Wasser trat. Sie sollte schwimmen. Van Garde stand im Cockpit und sah auf sie hinunter. Er ließ sie nicht an Bord, er flog in einiger Entfernung tief über dem Wasser neben ihr her und genoss jeden Augenblick.
„Es tut mir leid", rief Cress, die inzwischen nur noch Wasser trat. Sie konnte kaum noch sehen vor Erschöpfung. Sie schluckte schon wieder Wasser und brach in Husten aus. Gerade in dem Moment, in dem sie akzeptierte, dass er sie vielleicht doch ertrinken lassen würde, traf sie etwas am Kopf. Es war das Ende eines Seils.
„Ihr habt nicht nachgesehen, was in dem Rucksack ist", sagte van Garde, während einer seiner Soldaten sie an Bord zog. Cress knallte gegen die Wand seines Schiffs und blieb zitternd hocken.
„Was?", flucht sie und gab sich alle Mühe, nicht in Tränen auszubrechen.
„Der Rucksack. Ihr hattet ein Rettungsboot darin."
Cress griff nach dem Rucksack. Sie drehte ihn unzeremoniell um und sah zu, wie der Inhalt zwischen den Stiefeln der Männer herumkullerte. Ganz unten am Boden hatte ein flaches schwarzes Behältnis gelegen. Sie hatte soetwas noch nie gesehen.
„Deswegen sprechen wir über Equipment", schloss van Garde.
„Das alles", presste Cress hervor, „für diesen lehrreichen Moment."
„Nicht nur, ich möchte Euch auch persönlich für die Unterhaltung danken."
Sie hätte versucht, ihn anzuspringen und über Bord zu werfen, wenn sie noch Kraft gehabt hätte.
Man flog sie zurück auf Aretes Insel. Cress torkelte tropfnass aus dem Schiff, stolperte über die Gangway und landete auf Händen und Knien. Sie ließ sich zur Seite fallen und blieb einfach liegen.
„Lektion gelernt?", fragte van Garde, als er in ihr Gesichtsfeld trat.
„Bastard", keuchte sie.
„Ich fühlte mich danach, meinen Unmut abzubauen vor unserer Unternehmung. Das ist gesund."
„Geht es Euch jetzt besser?"
Er ließ seinen Blick einmal über sie wandern, wie sie vollkommen geschlagen am Boden lag, fast zu müde zum Atmen.
„Mein Tag ist hinreißend", lächelte Nicholas van Garde. „Bis demnächst."
Er verschwand in Richtung Haus und sie hörte, wie das Schiff abhob und über sie hinwegbrauste. Es war volle Absicht, da war sie sich sicher. Staub wurde aufgewirbelt und endlich war Cress alleine.
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Skythief - Gefallene Sterne [2024 Version]
Science FictionIn den Narben, tiefen Schluchten am Rande der Hauptstadt eines Imperiums in der Zukunft, ist Cress Cye als rechte Hand eines Verbrecherfürsten gefürchtet. Die alten Monster, die dort in den Tiefen leben, kennt sie gut. Doch als eines davon so viel S...