35 - Narben, Tiefe

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„Gewöhnt man sich daran?", fragte er irgendwann, während sie abstiegen. „Ich habe das Gefühl, ich starre direkt in die Ecken des Universums, die die Sterne verlassen haben."

Cress versuchte zum zweiten Mal, die nächste Sicherung in die Wand zu treiben. Der Vorsprung, auf dem sie gegessen hatten, lag inzwischen so weit über ihnen, dass man ihn kaum noch sah. Anscheinend hatte er nichts besseres zu tun, als in die Tiefe zu starren, während er auf sie wartete.

„Denkt nicht zu viel darüber nach", rief Cress, der schon wieder der Schweiß in die Augen rann.

„Das erweist sich als zunehmend schwierig."

Sie hielt inne und sah zu ihm nach oben. Er drehte den Kopf genug, um sie anzusehen.

„Vorschlag", rief Cress ihm zu. „Nächstes Mal bleibt Ihr einfach zuhause und trinkt Champagner in der Sonne."

Verweichlichter Adliger.

„Wenn es ein nächstes Mal geben sollte, täusche ich meinen eigenen Tod vor und lasse das jemand anderen machen."

Sie schmunzelte, allerdings nur so lange bis ein eiskalter verirrter Wind über sie hinwegfuhr. Er war stark genug, dass die nicht eingespannten Karabiner klapperten. Wenn sie einen Moment die Konzentration verloren, würden sie herausfinden, wie viel Wahrheit in all den Geschichten steckte, die man sich im farblosen Bezirk erzählte. Cress war nicht einmal überrascht, als ihnen Fledermäuse entgegenstoben. Sie hackten nach ihnen und sie löschten jedes Licht, um ihnen zu entgehen. In absoluter Dunkelheit stiegen sie weiter ab, bis sie die Höhle hinter sich hatten. Trotz der Nachtsichtgeräte erwies sich das als schwierig. Cress hörte ein dumpfes Geräusch hinter sich.

„War das Euer Kopf?", fragte sie. Keine Antwort. Sie brach eines der Leuchtstäbchen an ihrem Gürtel an, das die Welt um sie her in rotes Licht tauchte.

„Steht ihr gut?"

Sie dachte, sie wären unbeschadet davon gekommen, doch der Prinz fluchte, als sie in der Wand halt machten.

„Lasst mich sehen."

Er warf ihr einen wachsamen Blick zu, drehte seinen Oberkörper aber genug, dass sie sich die Abschürfung an seinem Oberarm ansehen konnte. Sie hatte den Anzug beschädigt und ging bis auf den Muskel. Dass er es heruntergeschafft hatte, war ein Wunder.

Cress erinnerte sich an das bläuliche Tuch, das van Garde ihr in die Hand gegeben hatte. Nachdem er ihr in den Finger geschnitten hatte und sie ihn fast ausgeknockt hätte dafür. Cress zog ihre Beine nach oben, weil sie in ihrer Position unmöglich in die Hocke gehen konnte. Fast wäre ihr der Plasmaverband in den Abgrund gefallen, er flatterte federleicht und bläulich schimmernd zwischen ihren Fingern. Es erwies sich als schwierig, jemanden zu verbinden, während man in der Wand stand. Jeder von ihnen konnte maximal eine Hand entbehren.

„Aufhören", befahl sie, als er den verletzten Arm belasten wollte, um zu helfen. Das Plasma schloss sich leise zischend um die Wunde. Cress wusste aus eigener Erfahrung, dass der Schmerz nachließ, sobald das HighTec Geflecht seine Wirkung tat. Sie stiegen ab, bis sie sich auf einem Felsen zusammenkauern konnten, um die Wunde richtig zu säubern.

„Das wird wieder."

Sie drückte die in Alkohol getränkte Gaze etwas fester auf, als nötig gewesen wäre.

Er zog die Luft durch die Zähne.

„Tut gar nicht erst so, als würde Euch das keinen Spaß machen."

Cress presste die Lippen zusammen, um nicht in Lachen auszubrechen.

„Haltet das."

„Sagt es."

„Ihr habt den Vorsprung nicht gesehen."

„Offensichtlich", knurrte Julian. „Hört auf so zu grinsen."

Er deutet nach unten.

„Ich hoffe, Ihr behaltet Eure gute Laune – wir sind bald da."

Cress dagegen hatte den Kopf zum Himmel erhoben. Sie kannte den Geruch zu gut, der durch die Schluchten wehte, kurz bevor es anfing. Sie spürte es abperlen von dem Anzug, den sie trug und trotzdem war es verheerend für alles, was jetzt kommen würde.

„Es fängt an zu regnen", flüsterte sie.

Skythief - Gefallene Sterne [2024 Version]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt