12 - Narben, Tiefe

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Der Kreuzbube hatte die Funksequenzen einer Gruppe Soldaten geknackt, die vor ewigen Zeiten in die Schluchten herab gestiegen waren. Cress hoffte, dass sie inzwischen keine andere benutzten, während sie auf einem kleineren Vorsprung ungefähr zehn Meter unterhalb ihres Lagers saß und die Zahlen eingab.

Cress hielt eines der kaum funktionsfähigen WalkeyTalkeys in der Hand, die der Kreuzbube bunkerte, und hörte damit die wohl technisch am besten ausgestatteten Menschen unter der Sonne ab. Denn sie hatte sich nicht nur hier herunterschicken lassen, um den Cyborg für den Kreuzbuben zu jagen. Nach dem Auftauchen des Todesengels waren Menschen aus der Stadt im Red Lip Roulette aufgeschlagen. Einige boten viel Geld für die Flügel des Cyborgs. Diese Trophäenjäger hatte Cress nur am Rande mitbekommen, während sie ihre eigene Jagd vorbereitete. Sie war mit den Gedanken bei einem anderen Gast gewesen, der noch früher aufgetaucht war, als die anderen. Einen Tag nach dem Zwischenfall mit dem Cyborg war er im Red Lip Roulette aufgetaucht und hatte nach ihr gefragt. Kein Eremit dieses Mal, sondern jemand aus der anderen Richtung. Sie war sich nicht sicher, ob er adlig war, aber reich in jedem Fall. Er hatte Cress eine obszöne Menge Geld geboten. Nicht für den Todesengel, sondern für jemand möglicherweise noch Gefährlicheren.

„Trajan, wirklich, du schmeichelst mir", sagte einer der Soldaten.

„Ich stehe zu meinem Wort. Eine Feder für jeden."

„Und den Rest für dich."

Dreckiges Lachen am anderen Ende. Cress hatte keinen solch nonchalanten Umgang erwartet. Der Drang, Dinge zu töten, die einen umbringen konnten, schien wohl mächtige Männer in und außerhalb der Schluchten zu verbinden. Der Fremde hatte ihr die Signatur des Schutzanzugs genannt, in dem der Mann steckte, auf den er es abgesehen hatte. Nicolas van Garde, hieß er. Ein General, der anscheinend Feinde hatte, die wollten, dass ihn die Narben fraßen.

„Sorgt dafür, dass er nicht in die Hauptstadt zurückkehrt, wenn er kommt, um den Vogel zu jagen", hatte der Fremde gesagt. „Lasst ihn abstürzen."

Sie hatte versucht abzulehnen, aber dann hätte sie vermutlich nicht überlebt, weil er den Fehler gemacht hatte, ihr den Namen zu nennen. Nicolas van Garde. Das klang schon nach einem arroganten Sproß der wohlhabenden Stadtbewohner. Cress hatte nicht damit gerechnet, dass sie die Soldaten tatsächlich zu Gesicht bekommen würde. Die Narben waren zu weitläufig dafür. Vielleicht waren sie nicht auf der falschen Fährte, wenn auch diese technologisch tausend Mal besser ausgestattete Truppe an dieser Stelle suchte. Sie hatten einen verlassenen Außenposten erreicht, den tiefsten, den Cress kannte, und waren dann weiter nach unten verschwunden. Sie stieg ebenfalls hinunter, brauchte dafür ungefähr zwei Stunden. Wenn sie dort gelagert hätten, wären sie wahrscheinlich entdeckt worden. Cress machte sich nichts vor. Sie würde den Auftrag nicht ausführen. Doch alleine Soldaten aus der Nähe zu sehen war etwas, das nur wenige je taten. Jede Information über ihre Ausrüstung, über ihre Waffen, war wertvoll.

Van Garde löste sich von der Gruppe. Sie sandten ihn als Späher hinauf auf das Dach. Cress konnte ihr Glück kaum fassen. Sie beobachtete, wie er über die Kante stieg, nun drei Stockwerke von der Gruppe entfernt. Sie sagte sich, dass es ein zu großes Risiko war. Pass auf, hatte Mike gesagt und genau soetwas gemeint. Doch die Gelegenheit war unverschämt günstig und das Geld lockte zu sehr. Das Geld, das ihr vielleicht endlich Freiheit von allen Gilden und ihre eigene Existenz verschaffen konnte. Sie lockerte seit geraumer Zeit einen Felsbrocken neben sich mit dem Messer. Alleine würde sie nicht schwer genug sein, um ihn umzuwerfen in der Hightec Rüstung, die er trug. Der Stein fiel und sie mit ihm. Sie hatte Chiby Wales einen Störsender für Funk abgekauft, schon vor Jahren. Im Fallen aktivierte sie das Gerät, das sie seit Tagen mit sich herumschleppte.

Der General hörte wohl, dass etwas kam, wandte sich zu ihr um, aber nicht schnell genug. Cress krachte in ihn hinein, ihr Schwung riss ihn von den Füßen und ließ den deutlich schwereren Mann in seiner Rüstung über das Dach schlittern. Er rutschte über die Kante, konnte sich aber noch festhalten. Sie rollte sich ab, setzte ihm nach. Ihr Überraschungsmoment war vorbei und der Mann hatte sicher nicht die billigste militärische Ausbildung genossen. Er feuerte über die Kante und links von ihr explodierte die Felswand in einem Schauer aus Licht. Doch er hing in seiner tonnenschweren Ausrüstung vom Dach und sie tat ihr Bestes, das er den Halt verlor. Was auch immer sie ihm beigebracht hatten, zerfiel unter Nana Rouges Angriffen in Cress Knochen. Ihr Verstand trat in einen dunklen Raum in ihrem Kopf zurück, während ihr Körper alles auf ihn losließ, was sie hatte. Nur noch ein wenig mehr und sie war frei.

Skythief - Gefallene Sterne [2024 Version]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt